Vorbemerkung:
Dieses unentgeltlich zur Verfügung gestellte Kompendium diente dem Verfasser und seinen Schülerinnen und Schülern vor allem als Vorlage für den gymnasialen Schulunterricht im Unterrichtsfach „Psychologie“ und erhebt weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Fehlerlosigkeit. Es ist hemmungslos eklektizistisch und will Hilfestellung für Lehrende und Lernende zur persönlichen Verwendung, nicht Wiedergabe eigener Forschungen sein. Jede weitergehende Nutzung, insbesondere die Speicherung in Datenbanken, Vervielfältigung und jede Form von gewerblicher Nutzung sowie die Weitergabe an Dritte (auch in Teilen oder in überarbeiteter Form) ohne Zustimmung des Autors sowie die Einbindung einzelner Seiten in fremde Frames bitte zu unterlassen! Alle Informationen werden unter Ausschluss jeder Gewährleistung oder Zusicherung, ob ausdrücklich oder stillschweigend, zur Verfügung gestellt. Der Verfasser übernimmt ferner keine Haftung für die Inhalte verlinkter, fremder Seiten.
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KOMPENDIUM DER PSYCHOLOGIE, 5. TEIL (mit LINKS ins Internet)
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INHALT DES 5. TEILS:
IX. DIE PSYCHISCHEN KRÄFTE (Definitionen - Triebe
und Verhalten - Die Gefühle
/ Emotionalität - Interessen und Werte - Wille und Motivation)
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X. SOZIALPSYCHOLOGIE (Definitionen - Erscheinungsformen sozialer Kollektive - Soziale
Ränge und Mechanismen - Methoden der Sozialpsychologie)
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XI. PERSÖNLICHKEITSPSYCHOLOGIE (Definitionen - Typologien)
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DEFINITIONEN
* Psychische Kräfte (Ausdruck vom Wiener Psychologieprofessor H. Rohracher; s. o.) sind jene seelischen Prozesse, die hinter den psychischen Funktionen stehen und diese aktivieren (s. a. o.): Triebe, Gefühle, Interessen und das Wollen.
* Hintergrundaktivität: Bezeichnung für Bewusstseinslage (Aktiviertheit), Emotionalität und Motivation, vor der Wahrnehmung, Denken und Lernen ablaufen
TRIEBE UND VERHALTEN
Triebtheorien existieren nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Biologie und Ethologie. Gemeinsam ist ihnen die Ansicht, dass endogene Kräfte und Grundbedürfnisse das Verhalten wesentlich steuern.
- Definition:
Triebe sind Drangerlebnisse, die autogen (von selbst) und ohne Mitwirkung des
Bewusstseins entstehen. Sie sind biologisch sinnvoll und angeboren, ihr Sitz ist in den
tieferen Gehirnlagen (Stammhirn, Zwischenhirn). Triebe gehen mit einer Verminderung der
Bewusstseinsklarheit einher und sind oft von Gefühlen begleitet. Sie bewirken
eine Orientierung auf den Reiz hin und als Folge entsprechende, gerichtete
Handlungen. Im Unterschied zum Tier kann der Mensch die Triebbefriedigung unbewusst sublimieren (s. o.),
bewusst aufschieben (s. o.)
oder sogar entgegen den biologischen Anforderungen leben (z. B. durch Hungern).
- Einteilung der Triebe:
* Erhaltungstriebe: vitale Triebe, die der Erhaltung der
Art oder des Lebens eines Individuums dienen (z. B. Nahrungs-, Geschlechts-, Brutpflege-,
Flucht-, Schlaftrieb etc.). Der Sexualtrieb wurde erstmals ausführlich durch Alfred
Charles Kinsey
(1894-1956) untersucht. Seine zwei Bände des Kinsey-Reports
(erschienen 1948 über den Mann und 1953 über die Frau) gelten als Auslöser der
„sexuellen Revolution“ der 60er-Jahre des 20. Jhdts.
Die Erhaltungstriebe bewirken z. B. auch, dass die Gehirne von Lebewesen im Interesse ihres Überlebens Bedrohungen schneller verarbeiten als die weniger dringlichen positiven Chancen (s. a. u. 3. Hypothese). Sie lassen sich in eine Triebhierarchie einordnen (nicht jeder Trieb ist in gleicher Weise auslösbar): der Fluchttrieb, der außer bei totaler physischer Erschöpfung immer ausgelöst werden kann, steht an erster Stelle, der Sexualtrieb an letzter Stelle (da die Arterhaltung im Moment der Bedrohung des individuellen Lebens warten kann).
Folgende Triebkonflikte gibt es (nach Lewin, s. o.; zu Konflikten allg. s. u.)
° | Appetenz-Appetenz-Konflikt: Zwei anstrebenswerte Reize konkurrieren; Hinwendung zum einen bedeutet Entfernung vom anderen (z. B. Futter oder Brunftpartner; „Qual der Wahl“). |
° | Appetenz-Aversions-Konflikt: ambivalente Situation; der anstrebenswerte Reiz kann nur um den Preis, sich einem Negativreiz auszusetzen, erreicht werden (z. B. Futter befindet sich in einer Angst machenden Umgebung; „Per aspera ad astra“). |
° | Aversions-Aversions-Konflikt: Entfernung von einem Negativreiz bedeutet Annäherung an einen anderen (z. B. eine Fluchtrichtung ist durch Feuer, die andere durch einen natürlichen Feind versperrt; „Von zwei Übeln das geringere wählen“). |
Im Konfliktmodell von Neal Elgar Miller (1909-2002) wird im Anschluss an Lewin das Zusammenspiel von Annäherungsgradient (Angezogenwerden von Objekten mit positiver Valenz) und Vermeidungsgradient (Abstoßungsverhalten gegenüber Objekten mit negativer Valenz) untersucht. Es formuliert folgende
° | Die Annäherungstendenz ist um so stärker, je näher der Organismus dem Ziel ist. |
° | Die Vermeidungstendenz ist um so stärker, je näher der Organismus dem Ziel ist. |
° | Der Vermeidungsgradient ist steiler als der Annäherungsgradient. |
° | Je stärker die das Annäherungs- und Vermeidungsverhalten motivierenden Triebe sind, desto größer ist die Höhe des jeweiligen Gradienten. |
° | Die Nettotendenz, das Ziel zu erreichen, ist die Differenz der beiden Tendenzen. |
* Soziale Triebe: Gesellschafts-, Machttrieb, Geltungsdrang etc.
* Hedonistische Triebe: nach Genuss- und Suchtmitteln (erworben! Vgl. o.). Nach psychoanalytischer Theorie sind sie eine Ersatzbefriedigung nach Ablenkung von einem ursprünglich sinnvollen Triebziel.
* Kulturtriebe: Wissens-, Erkenntnistrieb etc. (Ihre Nicht-Befriedigung bewirkt keine spürbaren physischen Ausfallserscheinungen - nach Meinung mancher: leider.) Vgl. u. Interessen
* Funktionstriebe: Spieltrieb, Drang, sich nach einer Ruhephase zu bewegen etc; dienen der Entwicklung bzw. der Erhaltung von Fähigkeiten und Fertigkeiten.
- Grundbegriffe der
Ethologie und menschliche Verhaltensweisen:
Abb. 5/1:
Konrad
Lorenz (Abb. aus
www.austria-forum.org)
Triebe realisieren sich in im Laufe der Phylogenese immer komplizierter gewordenen
Verhaltensweisen (darunter werden alle objektiv beobachtbaren physischen
Aktivitäten verstanden). Sie werden von der Ethologie (Verhaltensforschung;
nicht zu verwechseln mit Ethik, Etymologie, Ätiologie, Entomologie, Ethnologie
o. ä.) untersucht. Diesen Begriff
prägte 1911 Oskar Heinroth
(1871-1945: „Was man denkt, ist meistens falsch, aber was man weiß, ist
richtig“)
auf einem Ornithologenkongress.
Als Mitbegründer der neuen Wissenschaft gelten Heinroths Schüler, der Österreicher Konrad Zacharias Lorenz (1903-1988, in der NS-Zeit Univ. Prof., u. a. auf Kants Lehrstuhl in Königsberg, 1950 Direktor des Max-Planck-Institutes für Verhaltensphysiologie - benannt nach dem Physiker Max Planck, 1858-1947; wichtigste Bücher: Aggressionstheorie Das sogenannte Böse 1963; die schon in russischer Kriegsgefangenschaft zwischen 1944 und 1948 auf Zementsackpapier begonnene biologische Erkenntnistheorie Die Rückseite des Spiegels 1973; Ethik Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit 1973 - nahm einige Aspekte der Grünbewegung vorweg, deren Sprachrohr Lorenz im Hainburg-Volksbegehren 1985 war; Standardwerk Vergleichende Verhaltensforschung 1978; Alterswerk Der Abbau des Menschlichen 1983; vgl. Autobiographie), der Niederländer Nikolaas Tinbergen (1907-1988; beide zusammen mit dem österreichischen Erforscher der Bienensprache, Karl von Frisch, 1886-1982, Medizin-Nobelpreisträger 1973 - s. hier) und weitere Biologen.
Die Ethologie wendet Fragestellungen und Methoden der anderen Zweige der Biologie auf das Verhalten an und entdeckt, wie z. B. auch im Körperbau verschiedener Spezies, Homologien und Analogien. (Die Verhaltensforschung wurde auch „Tierpsychologie“ genannt; zur Anwendung auf den Menschen vgl. z. B. Der nackte Affe 1967, Manwatching 1977, Der Mensch, mit dem wir leben 1977, Das Tier Mensch 1994 - alle von Desmond Morris, *1928, oder die filmischen Dokumentationen, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie und Menschenforschung auf neuen Wegen von Irenäus Eibl-Eibesfeldt, 1928-2018.)
* Reflex: Ein Reflex ist eine biologisch sinnvolle, über den Reflexbogen (Rückenmark) unbewusst ablaufende, von äußeren oder inneren Reizen ausgelöste angeborene Organreaktion (Begriff von René Descartes; s. a. o.). Lebenslang lassen sich z. B. der Lidschlussreflex, der Patellarsehnenreflex etc. beobachten. Entsprechend dem Biogenetischen Grundgesetz von Ernst Haeckel (1834-1919; jedes Lebewesen mache während seiner Ontogenese noch einmal die Phylogenese durch) sind auch atavistische Reflexe beim Menschen im Säuglingsalter noch vorhanden (vgl. o.).
* Instinkt: Instinkte sind biologisch sinnvolle, unbewusst ablaufende, angeborene, oft komplexe Verhaltensweisen, die in verschiedener Intensität (von der Intentionsbewegung bis zur voll konsumierten Endhandlung), aber immer in derselben Reihenfolge ablaufen und von äußeren oder inneren Reizen ausgelöst werden (AAM = angeborenen Auslösemechanismen). Dabei scheint im Gehirn keine strikte Trennung für die Steuerung von erlerntem bzw. angeborenem Verhalten vorzuliegen. Im Unterschied zu anderen Lebewesen kann der Mensch (mit guten oder schlechten Absichten) bewusst gegen seine Instinkte handeln (z. B. Hungerstreik, Babyklappe, unnatürliche Lebensweisen aller Art, Suizid). Die Instinkthandlung wurde von Lorenz erbkoordinierte Bewegung genannt und dargestellt im
Abb. 5/2: aus Konrad Lorenz, Vergleichende Verhaltensforschung. Wien - New York 1978, p84
° | Wasser: symbolisiert die für eine Instinkthandlung notwendige Energie; der Wasserspiegel zeigt das aktuelle Instinktpotential (Aktualspiegel) |
° | Hähne: symbolisieren die „aufladenden“ äußeren und inneren Reize (der Schlüsselreiz wird links durch das zusätzliche Gewicht, rechts durch die Kanne dargestellt) |
° | Ablaufen des Wassers: symbolisiert das Ablaufen der Instinkthandlung |
° | Kork / Stoppel: symbolisiert die zu überwindende Hemmung |
Nach dem Homöostatischen Prinzip (Tendenz zur Herstellung eines inneren Gleichgewichts; s. a. o.) läuft die Instinkthandlung entweder von alleine ab (s. u.), wenn der Druck zu groß wird (der Korken wird durch die Wassersäule herausgedrückt, wenn eine gewisse Zeit vergangen ist), oder sie wird durch einen Schlüsselreiz (s. u.) ausgelöst (der im Modell durch eine rasch eingeschüttete Kanne Wasser symbolisiert wird). Beides führt zu einer Spannungsreduktion. (Zu Jungs Sichtweise auf Instinkt und Bewusstsein s. o.; im Gegensatz zu Lorenz leugnete der Chinese Zing-Yang Kuo / 郭任遠, 1898-1970, jedes angeborene bzw. ererbte Verhalten.)
* Schwellenwert: Wert, der erreicht werden muss, damit eine Instinkthandlung ablaufen kann. Er hängt von der Anzahl bzw. der Stärke (am stärksten wirkt der Schlüsselreiz, s. u.) der Reize bzw. davon ab, wie lange davor die erbkoordinierte Bewegung nicht ausgelöst wurde (vgl. z. B. die tierische oder auch menschliche Sexualität).
* Schlüsselreiz: ein eine Instinkthandlung auslösender, in seiner Anordnung meist sehr einfacher Reiz, der bei Attrappenversuchen (Ex.) durch eine „überoptimale“ Nachbildung ersetzt werden kann (z. B. „füttern“ Vögel aufgrund eines roten Dreiecks, das dem aufgesperrten Schnabel des Jungvogels gleicht und daher auslösend wirkt). Überzeichnete Auslöser, die die AAMs (s. o.) ausnützen, nützen z. B. die Werbung oder die Spielzeugindustrie, um Kaufverhalten anzuregen und so ihre Umsätze zu erhöhen. Bekannt geworden ist z. B. das von Lorenz 1943 so bezeichnete Kindchenschema (der Mensch bevorzugt instinktiv die pausbäckigen, kleinnasigen, runden Gesichtsformen mit großen Augen, die bei Neugeborenen die Brutpflege in Gang setzen), das man bei entsprechend konstruierten Puppen genauso wiederfindet wie bei realen Models oder sogar kleinen Autos.
* Leerlaufhandlung: eine lange nicht ausgeführte Instinkthandlung läuft nach einiger Zeit von alleine ab, auch wenn kein Schlüsselreiz auftaucht (z. B. das „Vergraben“ von Knochen im Parkettboden bei Hunden, die Eirollbewegung ohne Ei bei der Graugans etc).
* Appetenzverhalten: das Suchen nach dem eine Instinkthandlung auslösenden Reiz (umso motivierter, je länger keine Auslösung erfolgt ist). Vgl. auch Ex. zum Spezialhunger: lange entbehrte wichtige Nahrungsbestandteile, z. B. Kalk bei Hühnern, werden instinktiv bevorzugt, wenn sie wieder vorhanden sind. (Nicht zu verwechseln mit Tropismus, dem aktiven Suchen nach entsprechender Reizstärke - z. B. das Streben der Motte zum Licht!)
* Prägung: die Fixierung eines Triebes auf ein Objekt (z. B. die von Lorenz untersuchte Nachlaufprägung bei Gänsen; s. a. o. - Ex.: Ist das erste bewegte Objekt nach dem Schlüpfen nicht - wie üblich - die Mutter oder ein Geschwisterküken, sondern eine Spielzeugeisenbahn oder Konrad Lorenz selbst - vgl. Video -, so wird das Küken anschließend diesen „Objekten“ nachlaufen.)
* Aggression: Aggression, die nach intraspezifischer (innerartlicher) Aggression und interspezifischer (zwischenartlicher) Aggression unterschieden wird, ist ursprünglich ein dem Auseinanderhalten der Individuen dienender Trieb. Dadurch kann ein größerer Lebensraum mit mehr Nahrungsmöglichkeiten und daher besseren Überlebenschancen besiedelt werden. (Vgl. das auch heute noch vorhandene Bedürfnis des Menschen, andere fernzuhalten und sich ein Territorium abzustecken, z. B. durch Aufsetzen eines Trinkglases an einer bestimmten Stelle des Tisches, die Positionierung der Arme und Hände oder einen Gartenzaun.) Auf die ethisch ursprünglich neutrale Wortbedeutung weist der Titel von Lorenz' Buch Das sogenannte Böse hin, in dem er eine Naturgeschichte dieses lebens- und arterhaltenden Grundantriebes (der jedoch in der menschlichen Zivilisation mit tragischen Folgen fehlfunktionieren kann) versucht. Die Entsprechungen diesbezüglicher tierischer Verhaltensweisen beim Menschen untersuchte u. a. Desmond Morris (s. a. o.) in seinem Buch The soccer tribe 1981 / Das Spiel, in dem er das Fußballspiel als Analogon (auch zu Stammesritualen) darstellt.
Aggression kann offen oder verdeckt, direkt oder indirekt (z. B. strukturell), impulsiv oder instrumentell, von der Gesellschaft gebilligt oder missbilligt, als Auto- oder Fremdaggression, Einzel-, Gruppen- oder Massenaggression (z. B. Kindesmisshandlung, Bandenkriminalität bzw. Krieg) u. s. w. auftreten. Aggression gegen Sachen wird Vandalismus, die überdauernde Bereitschaft zu aggressiven Handlungen Aggressivität genannt. Unter Gewalt versteht man mit Macht und Kraft vollführte physische Aktionen (zum Begriff „Misshandlung“ s. o.). Man unterscheidet folgende
2 Aggressionsarten:
° | interspezifische Aggression: sie dient fast nur dem Nahrungserwerb (außer beim Menschen, dem Vertreter anderer Arten Auslöser oder Objekte aggressiven Verhaltens, das je nach Aggressionstheorie vielerlei Ursachen haben und wie bei der intraspezifischen Aggression bis zum Sadismus reichen kann, sein können) bzw. dazu zu verhindern, selbst zur Nahrung anderer Tiere zu werden. |
° | intraspezifische Aggression: sie tritt vor allem in drei Bereichen auf: bei Revierkonflikten, bei Fortpflanzungskonflikten (die im Tierreich oft durch nach festen Regeln ablaufende Ritual- oder Kommentkämpfe ausgetragen werden) und bei Konflikten, die zur Herstellung einer Rangordnung dienen. (Vgl. die 1922 in den Exen. von Thorleif Schjelderup-Ebbe, 1894-1976, untersuchte Hackordnung auf dem Hühnerhof oder das sog. Alphatier in der Affenhorde; die Neurobiologie stellte fest, dass sich ein Sieg in Rangordnungskämpfen - selbstverstärkend - positiv auf die Transmitterzusammensetzung, s. o., auswirkt, sodass, wer hinzuhacken imstande ist, dies bald gar nicht mehr tun muss, um vorgelassen zu werden, da „natürliche Autorität“ entstanden ist.) Verletzungen sind bei innerartlicher Aggression selten schwerwiegend, ein letaler Ausgang wird meist durch die jedem Lebewesen eingebaute Tötungshemmung verhindert (die allerdings der Menschen, der dem Korsett der Instinkthandlungen nicht unumgänglich unterliegt, v. a. durch die Anwendung von Fernwaffen überlisten kann, sodass im Unterschied zum Tierreich die menschliche Aggression häufig tödlich endet). |
Aggressionshemmungen können beim Menschen auch durch „Befehlsnotstand“ oder dann, „when you put good people in an evil place“, überwunden werden. Dieser situationale Ansatz wurde von Philip Zimbardo (1933-2024; s. auch hier) Luzifer-Effekt genannt. Er tritt in der Realität oft in Situationen extremen Machtungleichgewichts auf, die eine unheilvolle psychologische Dynamik auslösen. (Dies war z.B. 2004 im Folterskandal von Abu Ghraib beobachtbar). Beispiele finden sich in der NS-Zeit, in vielen weiteren historischen Situationen oder im berühmt gewordenen, 1971 durchgeführten Stanford-Prison-Ex. von Zimbardo (einem Schulkollegen von Milgram; s. u.), bei dem gesunde, „normale“ Menschen in „Wärter“ bzw. „Gefangene“ geteilt wurden. Ergebnis: die „Macht von Situationen, die von den das Böse erzeugenden Kräften des Systems hervorgerufen werden“, ließ unauffällige Studenten zu brutalen Gewalttätern mutieren und führte zu | |
+
De-Individualisierung + Autoritätsgehorsam + Selbstrechtfertigung + Rationalisierung + Entmenschlichung |
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(Zu Zimbardos Stanford Prison Experiment vgl. auch eine Seite der Univ. Köln. Das an sich für zwei Wochen konzipierte Ex., das außer Kontrolle geriet und nach einigen Tagen - auch auf Betreiben von Zimbardos späterer Frau Christina Maslach (s. o.) - abgebrochen werden musste, ist immer wieder umstritten: siehe z. B. hier.) | |
Zu diesem Themenkomplex vgl. auch den Film „Das radikal Böse“ über die deutsche Wehrmacht des österreichischen Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky, *1961, aus dem folgende Aussagen abgeleitet werden können: | |
+
Die Massenexekutionen während des Russlandfeldzuges [im 2. Weltkrieg; Anm.]
wurden durch „normale“ junge Männer durchgeführt. Menschen „wie du und ich“. + Obwohl es die Möglichkeit der Befehlsverweigerung gab, haben nur wenige von ihnen den Befehl, jüdische Zivilisten (darunter Frauen und Kinder) zu erschießen, verweigert. + Die strenge militärische Hierarchie erleichterte es den Tätern, keine Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, bzw. diese zu negieren (Dehumanisierung, Deindividuation; s. a. u.1 Gruppendruck und u.2 Milgram-Experiment). |
Gängige Aggressionstheorien:
° | Philosophische Theorien: Thomas Hobbes (1588-1679) hält den Menschen für von Natur aus ungesellig und aggressiv gegenüber anderen und illustriert dies mit einem Zitat von Plautus (ca. 254–184 v. Chr.); „lupus est homo homini“. Ein „bellum omnium contra omnes“ müsse durch einen starken Staat zu verhindern versucht werden. In Umkehrung dessen spricht Jean Jacques Rousseau (1712-1778) davon, dass erst die Gesellschaft den von Natur aus friedlichen Einzelmenschen, der andere nicht leiden sehen wolle, zu Aggressionen, vor allem in Zusammenhang mit Besitzstreitigkeiten, veranlasse. Eine Staatsmacht sei daher aggressionsfördernd, vielmehr gelte (ein nicht mehr mögliches) „Re ad naturam“. Nach Adam Smith (1723-1790) würden durch Güteraustausch gesellschaftliche Verpflichtungen und damit eine die Aggressionen mindernde Theorie der ethischen Gefühle (Buchtitel 1759 The Theory of Moral Sentiments) entstehen, die davor nicht existiert habe. |
° | Tiefenpsychologische Theorien (v. a. die Postulierung eines „Aggressionstriebs“ durch Adler 1908 und die Triebtheorie von Freud, der Aggression ursprünglich als Teil des Sexualtriebs, später als eigenständigen Destruktionstrieb, der die Energie nach außen wende, ansah): Aggression entstehe, wenn der Mensch an seiner Bedürfnisbefriedigung gehindert und so Unlust hervorgerufen werde. Sie werde von der eigenen Person auf andere Personen oder Objekte umgelenkt. Die die Aggression verbietende Autorität müsse ins Über-Ich integriert werden. |
° | Biologische Theorien (v. a. die „Dampfkesseltheorie“ / das „Staubeckenmodell“ / „psychohydraulische Modell“ vom „sogenannten Bösen“ von K. Lorenz, s. o.): Angeborene Instinkte und Triebe würden Energie aufstauen, die ein Ablassen verlange. Durch sozial verträgliche Ersatzhandlungen (z. B. Sport) könne das Energieniveau abgesenkt werden. Aggression könne nicht unterdrückt, sondern müsse kontrolliert werden. Beachtung verdiene, dass angeborene Tötungshemmungen durch Fernwaffen außer Kraft gesetzt worden seien. |
° | Physiologische / psychopathologische Theorien: Pathologische Hirnveränderungen oder ungünstige hormonelle Zustände führen zu Aggression (ein Tumor könnte z. B. auf die Amygdala drücken). |
° | Lerntheorien (v. a. Lernen am Modell nach Bandura, s. o., der Imitationslernen oder Lernen am Erfolg, das auf Konditionierung beruht, wenn gewisse Verhaltensweisen belohnt werden, annimmt): Sie besagen, dass Verhaltensweisen, die erfolgreich sind oder durch Role Models vorgeführt werden, eher zum Tragen kommen als andere. Deshalb müsse man im Interesse von heranwachsenden Kindern verhindern, dass Aggression positiven Folgen habe (z. B., wenn ein gewalttätiges Familienmitglied seine Interessen tatsächlich durchsetzen kann). |
Vieldiskutiert ist in diesem Zusammenhang die beim Konsum von Medien und Computerspielen (oft unbegleitet schon in frühen Altersstufen) rezipierte Gewalt. Im Laufe der Zeit würde dadurch Abstumpfung entstehen und ein Gewöhnungseffekt eintreten. Eine Gegenposition wäre die Katharsistheorie, nach der das Betrachten von Gewalt von eigener Aggressivität befreie. (Medial vermittelte Gewalt scheint zumindest weniger negativen Einfluss auf Heranwachsende zu haben als reale Gewalt. Nach Einführung des Fernsehens in den USA und Kanada verdoppelten sich allerdings - möglicherweise auch aufgrund des erwähnten Abstumpfungsprozesses - die Tötungsdelikte innerhalb einer Dekade.) | |
° | Frustrations-Aggressions-Hypothese (von J. S. Dollard und Miller, s. o.): nach ihr reagiere das Individuum in der Folge aggressiv, wenn sein zielgerichtetes Verhalten gehemmt werde und eine Bedürfnisspannung dadurch nicht ausgeglichen werden könne. Frustration sei also die Ursache von Aggression, einer „Handlung, deren Zielreaktion die Verletzung eines Organismus (oder Organismus-Ersatzes) ist“. Da Frustration im Leben niemals komplett ausgeschaltet werden könne, gelte es, sie umzulenken, um ein Aufschaukeln zu verhindern und zu lernen, durch Erhöhung der Frustrationstoleranz friedlich auf Misserfolge zu reagieren. |
Diese Theorie wurde 1971 von dem einen kognitiv-neoassoziationistischen Ansatz vertretenden Leonard Berkowitz (1926-2016) zur Frustrations-Fixierungs-Hypothese weiterentwickelt, nach der zwischen instrumenteller Aggression (um ein bestimmtes Ziel zu verfolgen) und impulsiver Aggression (aus innerem Antrieb) unterschieden werden müsse. Frustration führe nicht unmittelbar zu einem Bedürfnis nach Aggression. Dieser Prozess müsse durch den emotionalen Zustand des Ärgers erst vermittelt werden. Es gebe auch andere Formen aversiver Stimulation (external cues wie z. B. Waffen, laute Geräusche oder schlechte Gerüche), die negative Effekte und damit Aggression auslösten. Negative Affekte und die Bereitschaft zu aggressiven Handlungen würden parallel, nicht sequentiell auftreten. |
* Demutsgebärde: von Lorenz „moral-analog“ genannte Unterwerfungsgeste (bei manchen Tierarten z. B. das Darbieten der Kehle), die den Kampf beendet und die Tötungshemmung (die beim Menschen durch Fernwaffen überlistbar ist) einschaltet. Beim Menschen erscheinen Demutsgesten im Grußverhalten ritualisiert (z. B. den Hut ziehen, verbeugen, knicksen, um sich klein zu machen, die offene Hand darreichen, um Waffenlosigkeit anzuzeigen).
* Übersprungshandlung: bei Mensch und Tier in Konfliktsituationen zur Überbrückung von Unsicherheit häufig auftretendes Verhalten (z. B. Lachen in peinlichen Situationen, Kratzen hinter dem Ohr etc.)
* Imponiergehabe: stellt Dominanz innerhalb der Art her. Durch Gesten, Aufplustern usw. (beim Menschen auch durch Epauletten / Schulterpolster, hohe Absätze / Sohlen, Orden, Autos und andere Statussymbole etc.) soll Wirkung auf die Artgenossen erzielt werden.
* Verhaltensspiegelung: Menschen neigen dazu, unbewusst die Bewegungen ihnen sympathischer Personen nachzuahmen, um ihrem Gegenüber zu gleichen. („Gleich und gleich gesellt sich gern“ ist in Bezug auf die Partnerwahl und auch in allen anderen Belangen richtiger als „Gegensätze ziehen sich an“.)
GEFÜHLE UND EMOTIONALITÄT
Die Betrachtungsweise des menschlichen Verhaltens wird oft von der Dichotomie Ratio (lat. Vernunft) - Emotion (lat. emovere = herausbewegen; Gefühl) beherrscht. Nach Robert B. Zajonc, s. o., erfolgen emotionale Wertungen schneller und sind wichtiger als rationale („Preferences need no inferences“). Neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung weisen darauf hin, dass Gefühle ihre Wirkung umso stärker entfalten, je intensiver man sich ihnen hingibt. Wiederholtes Erleben von negativen, aber auch positiven Gefühlen hinterlässt kortikale Spuren. Die alte „Dampfkesseltheorie“, nach der es sinnvoll sei, sich mit seinem Schmerz ausführlich zu befassen (ihn zu bereden, sich zu bemitleiden oder Mitgefühl zu erhalten etc.), um ihn abzulassen, wird dadurch obsolet. Bemitleidete Menschen empfinden ihr Unglück stärker, nicht schwächer. „Katastrophisierung“ durch Eltern bewirkt z. B. auch eine intensivere Schmerzempfindung ihrer womöglich nur leicht verunfallten Kinder (und führt bei diesen a la longue zur Überzeugung, dass schlimmstmögliche Fälle, nur weil sie vorstellbar sind, auch eintreten werden - und damit zu ängstlichem Verhalten). Glück und Unglück lassen sich also durch Verstärkung „einlernen“. (Vgl. auch Steve de Shazer, 1940-2005: „Das Reden über Probleme schafft Probleme, das Reden über Lösungen schafft Lösungen.“) Untersuchungen deuten darauf hin, dass jede Person - auch dann, wenn sie unter Gefühlseinfluss steht - ihr eigenes Erleben und Verhalten zumindest bis zu einem gewissen Grad durch die eigenen Einstellungen und Handlungen beeinflussen und Emotionen kontrollieren kann.
Warum hat der Mensch überhaupt Emotionen (die je nach Temperament, s. u., stärker oder schwächer ausgeprägt sein können)? Sie sind im Laufe der Evolution sinnvoll „eingebaut“ worden, da sie Verhalten zu induzieren, zu motivieren, zu markieren und zu bewerten imstande sind (z. B. Helfen, Fliehen etc.) und den kommunikativen Austausch mit „mitschwingenden“ Anderen erleichtern. Emotionen helfen in Verbindung mit der Intuition (s. o.) dabei, rasch zu reagieren, können aber auch erwünschte Abläufe stören. So verhindert der Urgency Instinct analytisches Denken zugunsten eines hektischen Tunnelblicks, wenn man unnotwendigerweise glaubt, auf Veränderungen rasch reagieren zu müssen. (Umgekehrt werden unheilvolle langsame Veränderungen durch den Destiny Instinct oft gar nicht bemerkt.)
Prinzipiell gilt der Satz „Bad is stronger than good“, da uns eine gewisse Negativitätsdominanz beim Überleben hilft: Wir können rascher reagieren, wenn wir Bedrohungen sofort erkennen. Vgl. Exe., tw. von Paul Rozin, *1936: Auf einem Photo einer ansonsten indifferenten Menschenmenge identifizieren wir ein einziges zorniges Gesicht schneller als ein glücklich lächelndes. / Eine Schabe in einer Schüssel mit Kirschen verleidet uns durch das Aufkommen von Ekelgefühlen sofort den Genuss, eine Kirsche in einer Schüssel mit Schaben ruft hingegen keine positiven Gefühle hervor. (Nicht zu verwechseln sind diese Phänomene mit dem Pop-up-Effekt, bei dem im Ex. ein Buchstabe unter anderen Buchstaben nicht so leicht aufzufinden ist wie einer, der von Zahlen umgeben ist.) Dass politische und soziale Verhältnisse oft unangebracht negativ eingeschätzt werden, weist Hans Rosling, 1948-2017, in seinem 2018 posthum erschienenen Buch Factfulness bzw. in Statistikvisualisierungen nach; vgl. Video 1, Video 2 und Quiz. Ex.: So tippten z. B. nur 6% aller Deutschen und Franzosen in einer seiner Auswahlaufgaben auf die Frage: „Wieviele 1jährige Kinder sind weltweit gegen irgendwelche Krankheiten geimpft?“ mit den drei Antwortmöglichkeiten: „20% / 50% / 80%“ auf die richtige dritte Möglichkeit. Schimpansen schafften die statistisch erwartbaren 33,3% und waren damit mehr als 5mal treffsicherer.
Zur Manipulation von Emotionen durch KI (künstliche Intelligenz; s. o.) vgl. Seite der ÖAW
- Definition:
In der nicht einheitlichen wissenschaftlichen Terminologie werden unter
Emotionalität (der Gesamtheit der physische Veränderungen provozierenden Gemütsbewegungen) die vom Limbischen
System gesteuerten, eher nach außen gerichteten, beobachtbaren und
übergeordneten psychischen Modalitäten verstanden. Als deren Komponenten sind Gefühle
(die durch die körperlichen Aktionen ermöglichten geistigen Erfahrungen) seelische Zustände, die ohne Mitwirkung des Bewusstseins als
Reaktion auf inneres oder äußeres Geschehen auftreten und meist als angenehm oder
unangenehm erlebt werden, eventuell mit Ausnahme der nicht exakt einordenbaren Gefühle des Mitleids,
der Sehnsucht
und der Rührung. (Die Lust-Unlust-Dimension geht auf Ebbinghaus,
s. o., zurück).
Beispiele für Gefühle: Ekel, Freude, Furcht, Liebe, Scham, Trauer, Überraschung, Zorn. Unter Gefühlen wird auch oft der komplexere kognitive Rahmen verstanden, in die die primitive neurobiologische Disposition der Affekte persönlich eingeordnet wird.
Nach der Terminologie der Theorie der somatischen Marker (s. o.) bezeichnen Emotionen angeborene (primäre) bzw. erworbene (sekundäre) Veränderungen im Gehirn bzw. im Körper, Gefühle deren Wahrnehmung. Beobachte man Patienten mit Läsionen im Frontalhirn, so sehe man laut António Damásio (*1944; s. o.), dass diese Marker nicht mehr abgerufen werden können, was zu Entscheidungsproblemen führe. Die Erinnerung an die „Verknüpfung [...] zwischen der Disposition eines bestimmten Aspekts einer Situation und der Disposition für eine Art der Emotion in der Vergangenheit, die mit der Situation assoziiert wird“, fehle. Das Entscheidungsverhalten des Menschen könne dadurch stark verändert, persönlichkeitsfremd und problematisch werden. (Entscheidungen bedürfen also immer des Zusammenspiels des zugrunde liegenden älteren emotionalen Apparats mit der evolutionär jüngeren Vernunft. Diesen monistisch gedachten „Spinoza-Effekt“ spielt Damásio gegen den dualistischen „Irrtum des Descartes“ aus. (Vgl. o. Leib-Seele-Problem)
- Einteilung der Gefühle:
* Triebbedingte Gefühle:
° | vitale Gefühle: z. B. Hungergefühl, sexuelle Gefühle; zu Angstgefühlen (die vor Gefahren warnen) s. o. |
° | soziale Gefühle: z. B. Neid, Eifersucht (nach Friedrich Schleiermacher, 1768-1834 oder Franz Grillparzer, 1791-1872, „jene Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft“) |
* Empfindungsbedingte Gefühle: z. B. Kältegefühl, Geschmacksgefühle, Ekelgefühl (das den Genuss von Verdorbenem verhindert)
* Persönlichkeitsbedingte Gefühle: z. B. Selbstbewusstsein, Überraschung, (Lernvorgänge auslösende) Neugier, religiöse Gefühle, ästhetische Gefühle, Sehnsuchtsgefühle, Peinlichkeits-, Scham- und Schuldgefühle (die auch ohne rationalen Grund auftreten können; s. o.), das alarmierende Zorngefühl und vor allem
° | Gerechtigkeitsgefühle: Sie wurden durch das - mit Altruismus und Egoismus assoziierte - 1982 durchgeführte Ex. Ultimatumspiel des Experimentalökonomen Werner Güth (*1944) untersucht, in dem der Vpn. A 100 € geschenkt wird - allerdings nur unter der Auflage, einen Teil davon so an Vpn. B weiterzugeben, dass die Teilung akzeptiert wird (was meist erst zwischen 40 € und 50 € der Fall war). Tritt Vpn. A, die nur eine Chance hat und in der ursprünglichen Version des Spiels nicht kommunizieren darf, als nutzenmaximierender Homo oeconimicus (s. u.) auf und bietet (zu) wenig, so ist das Geld meist für beide weg, da von Vpn. B eher ein kleiner Gewinn ausgeschlagen als eine als unfair empfundene Aufteilung akzeptiert werden wird. Eine 1986 durchgeführte Untersuchung von Kahneman (s. a. o.) besagt, dass das Gerechtigkeitsempfinden in niedrigen Bildungsschichten ausgeprägter sei als in höheren. |
° | Sympathie: Im Gegensatz zur Antipathie (Abneigung) bezeichnet der Begriff „Sympathie“ (von griech. συμπαθεῖν für Mitleiden, Mitfühlen) eine gefühlsmäßig positive Einstellung zu einer Person (oder Sache). Die Forschung entdeckte mehrere |
Faktoren für interpersonale Attraktion
bzw. Affinität: + Reziprozität (wir mögen die, die uns mögen) + Ähnlichkeit („Gleich und gleich gesellt sich gern“, nicht: „Gegensätze ziehen sich an“) + Nähe und Bekanntheit (Mere exposure-Effekt, s. o.; allein einer Person ausgesetzt zu sein, erhöht die Wahrscheinlichkeit einer positiven Einstellung ihr gegenüber) + äußere Attraktivität (sie ist abhängig vom persönlichen Geschmack, wird aber - kulturübergreifend - oft von Symmetrie in Gesicht und Körper begünstigt) + Kompetenz (gibt Sicherheit) |
|
° | Empathie: Der Begriff „Empathie“ ist zunächst wertneutral. Er kann antisozial (für einen selbst) oder prosozial (für andere) als Mitgefühl eingesetzt werden, wobei Altruismus das in Handlung umgesetzte Mitgefühl wäre. (Nach dem kin selection-Argument von William Hamilton, 1936-2000, setzt sich altruistisches Verhalten evolutionär dann durch, wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis in Bezug auf die eigenen Gene positiv ist; wenn also z. B. durch den eigenen Tod - Untergang von 100% der eigenen Gene - 2 Kinder und 3 Enkel - 2 x 50% + 3 x 25% = 175% der eigenen Gene - überleben können.) Empathie hat folgende |
Merkmale: + sie ist ein emotionaler Zustand + der durch (eine) andere Person(en) ausgelöst wird (als Reaktion auf deren Emotionen) + und die tw. in Isomorphie (ein Bewusstseinszustand entspricht einem körperlichen Vorgang) abläuft (von griech. ἐμπάθεια: „Hineinleiden“) |
|
Empathie ist die Fähigkeit zu fühlen – nicht nur in Perspektivenübernahme zu wissen -, was ein anderer fühlt. Empathiefähig ist man, wenn jederzeit eine korrekte Zuordnung (self order distinction) möglich ist – ein Bewusstsein dafür, dass die andere Person Quelle des eigenen emotionalen Zustandes ist. Vermischung schafft Probleme. | |
Jugendliche scheinen eine leicht geringere Fähigkeit zur self order distinction zu haben und damit auch weniger empathiefähig zu sein (der Effekt ist aber relativ gering und lässt keine Individualdiagnosen zu). Self awareness und damit erste Empathie ist nicht vor 18-24 Monaten möglich. Wird (im Ex. oder auch sonst) die eigene Schmerzempfindlichkeit gesenkt (z. B. durch Opiate oder auch nur Placebos, verringert das auch die Empathie für fremden Schmerz. Autisten (s. o.) leiden aufgrund von neueren Arbeitshypothesen womöglich weniger an Empathiemangel als an einem Theory of mind-Problem (dazu s. a. o.): Sie können mit den Eindrücken – die sie sehr wohl haben - nicht umgehen und sind emotional überfordert. | |
Empathie ist also ein Nachempfinden im selben neuronalen System, das auch
für die eigenen Empfindungen verantwortlich ist (vgl. Theorie von den z. B. von Giacomo
O. Rizzolati,*1937,
erforschten „Spiegelneuronen“).
Spiegelneuronen allein können jedoch
Empathie und Theory of mind nicht erklären. Ihr Zusammenwirken mit anderen
Hirnteilen ist entscheidend. Die für die Empathie entscheidenden Hormone sind
Oxytocin und Vasopressin. Sie dämpfen die Ausschüttung des Stresshormons
Cortisol. (Informationen tw. nach einem Vortrag des Neurowissenschaftlers Claus Lamm, *1973, vom 10. 1. 2018) |
|
° | Glücksgefühl: Physiologisch und/oder situativ ausgelöstes, nicht klar definierbares Gefühl des Wohlbefindens und der Lebenszufriedenheit. (Im Deutschen hat „Glück“ auch die Bedeutung „Zufall“, vgl. z. B. „eine glückliche Fügung“.) Als individuelles Freiheitsrecht wird Pursuit of Happiness 1776 von Thomas Jefferson (1743-1826) im Gründungsdokument der ersten neuzeitlichen Demokratie USA genannt. Dieses Streben führt zum Easterlin-Paradoxon (nach Richard Ainley Easterlin, *1926): Wenn die Grundbedürfnisse erfüllt sind, führt eine Steigerung von Einkommen und Lebensstandard irgendwann nicht mehr zu einer Steigerung des Lebensglücks (vgl. a. u. Grenznutzen), das eher aus dem relativen Verhältnis zu vergleichbaren Personen resultiert. (Ex.: Eine Stunde mehr Schlaf pro Nacht hatte nach Untersuchungen von Kahneman u. a. 2001 denselben Effekt auf die subjektive Lebenszufriedenheit wie die Verdoppelung des Gehalts von 30 000 $ auf 60 000 $.) Ein Erklärungsversuch war das von Michael Eysenck (*1944, Sohn von Hans Jürgen Eysenck; s. u.) propagierte Konzept von der hedonistischen Tretmühle, das die Tendenz beschreibt, nach negativen, aber eben auch nach positiven Lebensereignissen rasch wieder zu einem durchschnittlichen Glückslevel zurückzuwechseln. (Dazu vgl. a. o. Regression; zur Glücksforschung s. a. o.) |
* Sekundäre Gefühle: sie setzen andere Gefühle voraus, z. B. setzt das Frustrationsgefühl (unter Frustration versteht man jede Störung einer zielgerichteten Aktivität; vgl. a. o.) ein Gefühl der Enttäuschung voraus, Freude (über etwas - im Gegensatz zum vordergründigen Spaß wegen etwas; laut Viktor E. Frankl - s. o. - „Waffe der Seele im Kampf um Selbsterhaltung“) Gefühle, die durch Sinnerlebnisse wie gelungene Abschlüsse oder Zärtlichkeiten ausgelöst wurden.
- Gefühlsmodi:
* Affekte: sind besonders starke,
durch Neurotransmitter ausgelöste Gefühle; sie bewirken
eine Ausschaltung des Bewusstseins, motivieren aber stark zu Handlungen
(„Bauchgefühl“, das nicht mit Intuition -
s. o.
- verwechselt werden darf), sodass für im Affekt (einer allgemein begreiflichen,
heftigen Gemütsbewegung,
§ 34, Z 8 StGB) begangene Taten vor dem Gesetz besondere Milderungsgründe angenommen
werden (sehr wohl aber besteht Verantwortlichkeit dafür, sich ev. fahrlässig in den
Zustand des Affektes begeben oder ihn durch Zufuhr von Substanzen provoziert zu haben). - Horaz,
eig. Quintus Horatius
Flaccus, 64-8 v. Chr.
sagt: „Ira furor brevis est.“ Zustände wie Wut, Euphorie oder Verzweiflung sollten sich
normalerweise im Laufe des Lebens immer besser steuern lassen, die
Impulskontrolle bereitet aber manchmal nicht nur Kindern Probleme.
(Sie erfolgt über das Top-down-System - die rationale Steuerung -, das
das Bottom-up-System - die kontinuierlich aufsteigenden Impulse -
bis zu einem gewissen Grad kontrollieren kann.) Es ist eine
der frühen Entwicklungsaufgaben des Menschen, Gefühle durch die Rückmeldung der
Eltern einordnen und kontrollieren zu lernen. Die entsprechenden Lernerfahrungen
werden durch die Art und Weise des Reagierens (z. B. auf das Weinen eines Babys
in dyadischem Austausch) geprägt. Wird nicht oder inadäquat reagiert, sind
spätere Gefühlsstörungen nicht mehr unwahrscheinlich. Auch frühe Kommunikation
mit elektronischen Geräten statt mit realen Menschen (mit realer Körpersprache)
erschwert später das Auslesen der Gefühle anderer (und damit auch der eigenen).
Das Auftreten der Erregung und ihrer physischen Begleitvorgänge (derselben wie bei Neurosen, s. o.) wird bei Affekten subjektiv spürbar, aber auch objektiv durch die psychogalvanische Reaktion messbar: Die PGV kann aufgrund des bei stärkeren Gefühlen veränderten Leitungswiderstandes der Haut mit einem Psychogalvanometer gemessen werden. Dies kann als Teiluntersuchung in einen Polygraphen (im Volksmund Lügendetektor; er misst auch andere Parameter wie Herzschlag, Atmung etc.) eingespeist werden, dessen Nachteil allerdings darin liegt, nur einen allgemeinen Spannungs- und Erregungszustand, nicht dessen spezifischen Grund erfassen zu können. Im Gegensatz zu den USA oder Belgien, wo man mit seiner Hilfe u. a. Täterwissen zu entlarven versucht, ist er in Österreich daher als Beweismittel nicht zugelassen. Die Annahme, dass Menschen während des Lügens erregter sind als sonst, mag ja für abgebrühte Verbrecher womöglich gar nicht zutreffen. Andererseits könnten Unschuldige allein durch den Umstand einer polizeilichen oder gerichtlichen Befragung in Nervosität versetzt worden sein. (Das erste Gerät zur Emotionserkennung entwickelte 1923 an der Universität Graz der österreich-ungarisch-italienische Experimental- und Gestaltpsychologe Vittorio Benussi (1878-1927; Suizid), der auch Atmungsdifferenzen feststellte: nach einer Lüge sei die Inspiration, nach einer wahren Aussage die Exspiration verlängert (Benussi-Kriterium).
* Stimmungen: sind länger andauernde Gefühlslagen, die, oft ohne äußeren Anlass, immer am menschlichen Leben im Hintergrund beteiligt sind. (Es ist unmöglich, nicht irgendwie gestimmt zu sein.) Vor allem die Melancholie erregte immer wieder die Aufmerksamkeit von Künstlern (vgl. z. B. das 1621 erschienene Buch Anatomie der Melancholie von Robert Burton, 1577-1640, oder die entsprechenden Darstellungen von Albrecht Dürer, 1471-1528 - Link - und Edvard Munch, 1863-1944 - Link). Stimmungsschwankungen nennt man Zyklothymien, anhaltende Gutlaunigkeit Hyperthymien, anhaltende (depressivartige) Verstimmungen Dysthymien. (Zur echten Manie bzw. Depression - der Unterschied wird an den Veränderungen des Verhaltens im Laufe des Lebens erkannt - s. o.) - Man unterscheidet folgende
3 Stimmungslagen:
° | Eukolie: gute Stimmung |
° | Dyskolie: Missstimmung |
° | Melancholie: Weltschmerzstimmung |
Vielfach untersucht wurde in Ex.en das Phänomen, dass Stimmungen auf unseren kognitiven Bereich einwirken und unsere moralischen und „objektiven“ Entscheidungen, ohne dass uns dies bewusst ist, beeinflussen. Sie erzeugen Noise (s. o.) während der Urteilsbildung und weisen darauf hin, dass wir nicht durchgängig dieselben Personen sind, auch wenn wir nach Kahneman „der Person, die wir gestern waren, ähnlicher sind als einer fremden Person heute“. Genauso wenig, wie man einen Basketballfreiwurf exakt wiederholen könne, seien unsere Urteile in derselben Angelegenheit in verschiedenen Situationen deckungsgleich. (Nachgewiesene Beispiele: das von Richtern verhängte Strafausmaß, die Notengebung von Lehrern, die Gewährung von Krediten oder Asyl usw. hängen von Umständen wie Wetter, Schlaf- oder Nahrungsmangel, Stress, Vorführung heiterer Videos usw. usf., denen die urteilenden Personen ausgesetzt sind und die Stimmungen erzeugen, ab und bewegen sich häufig außerhalb einer tolerablen Schwankungsbreite: Belege in Daniel Kahneman, Noise; 2021.) Der alte Ratschlag, vor wichtigen Entscheidungen einmal zu schlafen (um danach in einer anderen Stimmung zu sein und so die Entscheidungsgrundlage zu verbreitern), scheint in diesem Zusammenhang sinnvoll.
- Gefühlsstörungen (Parathymien):
* Torpide Form: Gefühlslähmung (im Extrem Hypothymie
genannt)
* Erethische Form: übersteigerte Gefühle (bis hin zur Hyperthymie)
Das Regulieren der Gefühle wird in der frühen Kindheit im Dialog mit den Bezugspersonen, die die Gefühle des Säuglings aufnehmen, spiegeln und benennen müssen, erlernt (oder eben nicht). Treten Störungen auf (indem Affekte, die er nicht einordnen kann, den Menschen überschwemmen), werden diese teilweise später über Drogenkonsum (der das erwünschte Erleben vorgaukelt und über Dopamin- und Serotoninduschen die depressive innere Leere, bestehend aus Freud-, Antriebs-, Lust-, Appetit-, Schlaflosigkeit etc. kurzfristig kaschiert) oder anderes abweichendes Verhalten kompensiert.
Starke, oft von überstarker Aktivierung der Amygdala und mangelnder Koordintion anderer die Gefühle steuernder und kontrollierender Hirnteile hervorgerufene oder zumindest begleitete Schwankungen der Emotionen können vor allem bei Jugendlichen zu als emotionsregulierend empfundenem SVV (selbstverletzendem Verhalten, v. a. „Ritzen“) führen, das im Ex. (durchgeführt an der Wiener Universitätsklinik für Jugendpsychiatrie) durch weniger gefährliche Wasabi-, Chili-, Eis- oder Ammoniakerlebnisse substituiert werden kann.
- Theorie der Gefühle:
* Neurobiologische Grundlagen (s. a. o.):
Gefühle aktivieren verschiedene Hirnregionen (v. a. im limbischen System). Über den Thalamus, den Torwächter des Bewusstseins (er entscheidet, ob überhaupt
reagiert werden soll / muss), gelangen Gefühle in das Gefühlszentrum, die
(bei Männern größere) Amygdala. Dort erfolgen Einordnung und Bewertung (z. B. im
Hinblick auf mögliche Gefahren). Hypothalamus und Hypophyse
versenden Hormone, der Hippocampus speichert ab (oder nicht). In der vorderen
Großhirnrinde entsteht dann das bewusst wahrgenommene Gefühl. Im Alarmfall
übernimmt das (schnellere) limbische System die
„Befehlsgewalt“ über den (langsameren, vernunftbestimmten)
präfrontalen Cortex. (Bewusste, rationale Überlegungen würden die Reaktionszeit
- womöglich lebensbedrohend - verlängern.)
* Zwei-Komponenten-Theorie (erstellt 1962 von Jerome Everett Singer, 1934-2010, und Stanley Schachter, 1922-1997; vgl. folgende Seite bzw. eine über Emotionstheorien): Nach den 1884/5 unabhängig voneinander aufgestellten Theorien von William James (1842-1910; s. o.) und Carl Georg Lange (1834-1900), nach denen Gefühle Folgen bzw. Korrelate physiologischer Vorgänge seien, hatte lange Zeit die Zwei-Komponenten-Theorie Gültigkeit, die Emotionen als postkognitive Phänomene beschreibt (in den letzten Jahren tw. umstritten). Die Cannon-Bard-Theorie (nach Walter Cannon, 1871-1945, - er verwendete zum ersten Mal das Wort „Stress“; s. o. - und Philip Bard, 1898-1977) relativierte dies insofern, als sie annahm, dass physiologische Affektierung und die Emotion gleichzeitig auftreten. Man unterscheidet jedenfalls
2 Bereiche:
° | Physiologisches Arousal: bestimmt - qualitätsunabhängig - die Intensität des Gefühls. Die Beteiligung der unspezifisch erregten entsprechenden Gebiete des ZNS (des ARAS = aufsteigend retikulären Aktivierungssystems, also Formatio Reticularis, Limbisches System, Thalamus etc.) ist für alle Gefühle dieselbe (vgl. die Veränderbarkeit der Gefühlsbereitschaft durch Psychopharmaka) |
° | Kognition: bestimmt - kontextabhängig - die Qualität des Gefühls. Die spezifische Einfärbung eines Gefühls (die „Bewertung“ der Aktivierung der entsprechenden Hirnteile) erfolgt durch die jeweils aus der Umgebung einwirkenden Reize (z. B. Freude über einen Olympiasieg, Trauer aufgrund eines Todesfalls). |
Singer und Schachter erklären Emotionen als gleichzeitige Folge von körperlicher Erregung und kognitiver Bewertung. Anhand des folgenden Exs. wiesen sie sowohl die physische Komponente (durch Gabe / Nicht-Gabe entsprechender Substanzen) wie auch die psychische Komponente (durch Beeinflussung der Vpn.) nach:
Ex.: Zwei Gruppen von Vpn, die vorgeblich an einem Wahrnehmungsex. teilnahmen, wurde ein adrenalinhaltiges Medikament, das die an Emotionen beteiligten ZNS-Partien stimuliert, verabreicht. Beide Versuchsleiter, als Vpn getarnt und in jeweils eine der Gruppen eingeschleust, verhielten sich emotionell: der eine negativ (wütend, ärgerlich etc.), der andere positiv (heiter, glücklich). Die wahren Vpn wurden dadurch manipuliert und zeigten im Durchschnitt dieselben Emotionen wie die heimlichen Versuchsleiter, schrieben sie aber der eigenen Gemütslage zu. (Das Gefühlsniveau von Kg.en, die nichts gespritzt bekamen, war deutlich geringer.) |
1966 erweiterte Stuart Valins (1938/9-2022) diese Theorie insofern, als er nachwies, dass dieselben Effekte auftreten, wenn man glaubt, physiologisch erregt zu sein. Die Stimulierung muss also, ähnlich einem Placebo-Effekt, gar nicht auf realer Grundlage beruhen. In Ex.en (s. hier) spielte Valins den Vpn. frequenzintensive, aber gefälschte Herzschläge, die vorgeblich ihre eigenen waren, über Kopfhörer ein, wodurch hohe Gefühlsintensität insinuiert wurde, die genauso emotionsbasierte Reaktionen hervorzurufen imstande war wie die durch das gespritzte Adrenalin verursachten bei Singer und Schachters Versuchsanordnung (Valins-Effekt).
* 7 Basisgefühle von Paul Ekman (*1934):
° | Sadness (Traurigkeit) |
° | Anger (Ärger) |
° | Happiness (Glück, Zufriedenheit) |
° | Contempt (Verachtung) |
° | Fear (Angst, Furcht) |
° | Disgust (Abscheu, Ekel) |
° | Surprise (Überraschung) |
Diese Basisgefühle korrelieren laut Ekman mit einer jeweils spezifischen Konstellation der 43 Gesichtsmuskel, werden universell verstanden (decodiert) und können eventuell bewusst zu Täuschungszwecken falsch ausgesendet werden. Die Stellungskombinationen dieser 43 Muskel dienen unserem Gehirn auch zur unbewussten Verarbeitung und Einschätzung des Eindrucks uns bis dahin unbekannter Menschen.
Kritik: Wichtige Emotionen, wie z. B. sexuelle Erregung oder Neugier, würden fehlen, nach Zuschaltung des Bewusstseins würden sich meist vorhandene Vorurteile verstärken. Umstritten war auch die Anwendung von Ekmans Erkenntnissen im öffentlichen Raum, z. B. durch Gesichtserkennungsscanner auf Flughäfen oder Schulung von Sicherheitspersonal im „Lesen“ von micro expressions.
* Wheel of Emotions von Robert Plutchik (1927-2006; vgl. eine entsprechende Abbildung): nimmt acht Primäremotionen an (im Uhrzeigersinn, oben beginnend: Freude, Vertrauen, Furcht, Überraschung, Traurigkeit, Ekel, Ärger und Erwartung) und ordnet sie auf einem zweidimensionalen Kreis (oder dreidimensionalen Kegel) an, wobei qualitativ ähnliche Emotionen nebeneinander liegen und entgegengesetzte Emotionen (die einander hemmen, wenn sie gleichzeitig aktiviert werden) gegenüberliegen. Als dritte Dimension wird die Intensität miteinbezogen.
- EQ (Emotionale Intelligenz):
EQ bezeichnet eine 1995 von Daniel Goleman
(*1946) in seinem Bestseller EQ - Emotionale Intelligenz popularisierte Theorie bezüglich der Ergänzungsbedürftigkeit des
Intelligenzquotienten (IQ,
s. o.). Für beruflichen und privaten Erfolg sei der Emotionale Quotient
genauso wichtig. Der Begriff „Emotionale Intelligenz“ wurde 1993 von Peter Salovay
(*1958) und John Mayer
(*1953) von der Yale-University
geprägt. Seit 2004 ist sie im
MSCEIT (Mayer Salovay Caruso Emotional Intelligence Test;
nach David R. Caruso,
*1956) messbar. Teilbereiche des Tests: Wahrnehmung von
Emotionen - Nutzung von Emotionen (z. B. Verwendung zur Unterstützung des Denkens) - Verstehen
von Emotionen - Umgang mit Emotionen und deren Beeinflussung.
* Emotionale Intelligenz: Zusammenfassende Bezeichnung für in der Erziehung vermittelbare Tugenden wie Mitgefühl und Selbstbeherrschung (laut Goleman die beiden in unserer Zeit nötigen moralischen Grundhaltungen). Durch sie lasse sich das angeborene intellektuelle Potential besser verwirklichen (vgl. EQ-Test). Die Gesamtheit der Fähigkeiten, welche die Intelligenz der Gefühle darstelle, entspreche etwa dem alten Begriff „Charakter“ (nach Amitai Etzioni, 1929-2023, „der psychologische Muskel, den moralisches Verhalten erfordert“ und dessen Entwicklung die Grundlage demokratischer Gesellschaften sei; zum Begriff „Charakter“ s. u.).
5 Teilkonstrukte der emotionalen Intelligenz:
° | Selbstbewusstheit (eigene Gefühle und Bedürfnisse werden verstanden, akzeptiert und in ihrer Wirkung auf andere richtig eingeschätzt) |
° | Selbstmotivation (sich unabhängig von Außenreizen für seine Aufgaben begeistern) |
° | Selbststeuerung (im Hinblick auf Zeit und andere Ressourcen planvoll handeln) |
° | Empathie (emotionale Befindlichkeiten anderer verstehen und angemessen auf sie reagieren) |
° | Soziale Kompetenz (Kontakte knüpfen, tragfähige Beziehungen aufbauen, Netzwerke knüpfen; vgl. diesbezügliche Testaufgaben) |
* Ampel-Modell: Die Fähigkeit, Impulse (= Medien der Emotionen) zu unterdrücken (s. a. o.), wird als Grundlage von Wille und Charakter gesehen. In der Erziehung soll versucht werden, dies - z. B. durch das Ampel-Modell - zu vermitteln. (Ähnliches wird bereits in den Gesta Romanorum nach dem pythagoreischen Vorbild „Βουλεύου δὲ πρὸ ἔργου, ὅπως μὴ μῶρα πέληται“ im lateinischen Hexameter „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem“ ausgedrückt.)
Rot: |
|
1. | Halte an, beruhige dich und denke, bevor du handelst! |
Gelb: |
|
2. | Benenne das Problem und sag, wie du dich fühlst! |
3. | Setze ein positives Ziel! |
4. | Denke an viele Lösungen! |
5. | Bedenke im Voraus die Folgen! |
Grün: |
|
6. | Geh los und probiere es mit dem besten Plan! |
Abb. 5/3: Das Ampelmodell
INTERESSEN UND WERTE
Das Wort Interesse wird im Deutschen auf zweierlei Weisen gebraucht: Es bezeichnet einerseits subjektive Zielsetzungen, die von ihren Vertretern durchgesetzt werden wollen (z. B. von der Arbeiter- oder Wirtschaftskammer, im Sinne von: „es ist in unserem Interesse, dass...“ etc.), andererseits sinnstiftende Vorlieben, Hobbys und Neigungen ohne politische Implikationen, auf die bewusst Aufmerksamkeit gerichtet wird (z. B. „Sie interessiert sich für Archäologie“). Die folgenden Abschnitte beziehen sich auf diese zweite Bedeutung.
Auch der Begriff Wert ist ambivalent: er kann rein ökonomisch oder (wie hier) im Sinne einer würdigen, idealen und daher verfolgenswerten Sache, Einstellung oder Überzeugung verstanden werden.
- Definition:
Interessen, auch „Kulturtriebe“ oder „Bedeutungsgefühle“ genannt, treten nur beim
Menschen auf. Man versteht darunter autogene Drangerlebnisse nach
spezifischen geistigen,
kulturellen oder wertebezogenen „Objekten“, die sich in ihrem Ziel unterscheiden
und zu Interessenskonflikten führen können. Die subjektive Wertzuschreibung
(positive Wertschätzung des Interessegegenstands) ist dabei mit positivem
emotionalen Erleben verbunden.
Werte entstehen durch Nachdenken über die im orbitofrontalen Bereich des Gehirn im Laufe des Aufwachsens entstandenen neuronalen Repräsentationen der bis dahin vorgenommenen Bewertungen. Man versteht darunter Eigenschaften oder innere Qualitäten, die es anzustreben und für das Leben verbindlich zu machen gilt. (Vgl. in diesem Zusammenhang Immanuel Kant, 1724-1804: Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.)
Eine an Spranger - s. u. - orientierte differentialdiagnostische Methode zur Erfassung beruflicher Interessen - aufgesetzt auf einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Daten- / Ideeninteresse bzw. Interesse für Dinge / für Menschen - ist z. B. das Hexagonale Strukturmodell von John Lewis Holland, 1919-2008, in dem an den jeweiligen Eckpunkten eines Sechsecks im Uhrzeigersinn sechs mögliche, eher statisch verstandene Personen-Umwelt-Orientierungen: R - realistic / Doers, I - investigative / Thinkers, A - artistic / Creators, S - social / Helpers, E - enterprising / Persuaders und C - conventional / Organizers eingetragen werden, deren Erfassung eine Passung zwischen Person und Beruf ermöglichen sollen.
- Interessensbildung:
Interessen können sich auf verschiedenen Entwicklungswegen bilden:
* nach dem Wachstumsmodell, wenn sich frühe allgemeine Interessen ins Konkrete weiterentwickeln,
* nach dem Kanalisierungsmodell, wenn sich ein spezifisches Interesse aus einem breiten Spektrum ausdifferenziert,
* nach dem Modell der funktionellen Autonomie von Gordon Allport (1897-1967), nach dem - im Gegensatz zu den Ansichten des Behaviourismus und der Psychoanalyse - viele Interessen und Motive von Primärantrieben und Grundbedürfnissen funktionell unabhängig von ihren Ursprüngen als selbsterhaltend betrachtet werden können, wenn der Mensch durch einen Reifeprozess autonom geworden sei, und
* nach dem Überlappungsmodell, wenn verschiedene Interessen zusammen die Grundlage für etwas Neues bilden.
- Wertkategorien:
* Schöpferische Werte: Sie leiten sich aus allen Akten
ab, die zur Gestaltung und Bereicherung der Welt führen (interpretative Disposition).
* Erlebniswerte: Sie entstehen durch das Aufnehmen der Außenwelt und können Voraussetzung für die schöpferischen Werte werden (sensible Disposition).
* Einstellungswerte: Sie entspringen der Konfrontation mit den
Lebensumständen (und deren Meisterung) und sind das Fundament der menschlichen Existenz
(volitive Disposition).
Vgl. o.
V. Frankl
Der Begriff Psychische Einstellung (s. a. u.) bezeichnet die Haltung, die der Mensch gegenüber Werten (laut Milton Rokeach, 1918-1988, in instrumentelle Werte und letzte Werte zu gliedern, wobei erstere eingesetzt werden, um letztere zu erreichen) einnimmt. Wertorientierungen bzw. Werthaltungen sind stabile Dispositionen, die sich auf das auswirken, was Personen wichtig bzw. anstrebenswert erscheint. Sie sind mittel-, manchmal langfristig zeit- und situationsunabhängig (wenn sie sich auch im Laufe des Lebens verändern können).
WILLE UND MOTIVATION
Eine im Zusammenhang mit dem menschlichen Willen immer wieder diskutierte philosophische Frage ist die nach der Freiheit (Willensfreiheit, Handlungsfreiheit). Werden wir immer vom jeweils stärksten vorhandenen Motiv determiniert? (Für Arthur Schopenhauer, 1788-1860, besteht Freiheit in der - unrealistischen - Abwesenheit aller Notwendigkeit, sodass man eventuell tun, aber nicht wollen könne, was man wolle.) Würden wir bei gleich starken Motiven - wie der bekannte, fälschlich Johannes Buridan (1300-1358) zugeschriebene Esel zwischen zwei gleich weit entfernten Heuhaufen - verhungern? Ist ein Mensch, der frei zu sein glaubt, mit einem Stein vergleichbar, der sich während eines (von außen angestoßenen) Wurfs einbildet, fliegen zu können (Beispiel von Spinoza)? Oder können wir uns auch gegen starke Motive frei entscheiden? Willensfreiheit kann nach den Ergebnissen der Neurowissenschaften jedenfalls auf keinen Fall heißen, dass wir Entscheidungen unabhängig von unserem Gehirn treffen können. Auch das Gefühl der Freiheit selbst (vgl. a. o.) ist eine Konstruktion unseres Gehirns.
Vgl. Motivation in der Psychologie, Definitionen, Lehrmaterial
- Definition:
Eine Willenshandlung liegt (nach Rohracher)
vor, wenn ein Mensch seine psychischen Funktionen in klarbewusstem Zustand und
mit voller innerer Zustimmung zur Erreichung seiner Ziele einsetzt. Zunächst ist
der Wille nach
Frankl (s. a. o.)
nur eine Beauftragung an sich selbst, die Umsetzung sei eine andere Sache.
(Vgl. auch das Immanuel Kant,
1724-1804, zugeschriebene Zitat: „Ich kann, weil ich will, was ich muss“; zur
Sichtweise der Hirnforschung
s. o.)
Die Motivationspsychologie untersucht Anstoß (dass etwas in Gang kommt), Funktionsableitung (woher der Anstoß kommt und wohin er führt) und Variabilität des Verhaltens (weshalb der eine so, der andere anders reagiert).
Ergebnisse:
° | Trieb-, Instinktkonzept: besagt, dass angeborene Beweggründe unsere Handlungen bestimmen. |
° | Physiologische Konzepte: betonen die Rolle körperinterner Vorgänge („Man sagt es mir in jeder Analyse: die Liebe ist die Krise einer Drüse“ - Georg Kreisler, 1922-2011) |
° | Aktivierungstheorie von Donald B. Lindsley (1907-2003): Unspezifische körperliche Aktivierungen werden durch Informationsverarbeitung auf ein Ziel gerichtet. (Vgl. o. die Theorie von Singer und Schachter) |
° | Persönlichkeitstheoretische Motivationstheorien: Der US-amerikanische Verhaltenspsychologe David Clarence McClelland (1917-1998) hält die dominanten Bedürfnisse nach Erfolg, Macht und Zugehörigkeit für die wichtigsten menschlichen Antriebskräfte und darüber hinaus für die Ursachen sozialen Wandels und der Evolution von Gesellschaften. |
° | Zielpsychologische Konzepte: Sie weisen darauf hin, dass Ziele erreichbar, aber nicht zu tief gesteckt sein sollten (eventuell im schulischen Kontext als individuelle Bezugsnorm; s. a. o.) |
° | Multifaktorentheorien u. a. m. |
Motivation kann (von innen) intrinsisch - z. B. durch Desinteresse / Interesse an einer Sache - oder (von außen) extrinsisch - z. B. durch Strafandrohung, Geld - erfolgen. (Die Wahrscheinlichkeit der Entstehung intrinsischer Motivation bzw. der Umwandlung von extrinsischer in intrinsische Motivation steigt, wenn dem Tun ein wie immer gearteter Sinn zugeschrieben werden kann.) Selbstmotivation bedeutet, sich unabhängig von Außenreizen für seine Aufgaben begeistern zu können. In diesem Zusammenhang stehen das Ego-Depletions-Modell (Selbsterschöpfungsmodell; die Willenskraft des Menschen erschöpft sich bei Gebrauch und kann erst nach Erholungspausen wieder ihre volle Kraft entfalten) Konzepten gegenüber, die eine positive Beeinflussung der Willenskraft durch diverse Faktoren (Erwartungshaltungen, Einstellungen, kulturelle Aspekte etc.) annehmen.
Das Ausmaß der Motivation wird von den Motivierungspotentialen der Handlungssituation und den Motiven der handelnden Person bestimmt. Aus diesen Bestimmungsstücken entstehen persönliche Zielsetzungen und (durch physische, psychische und geistige Voraussetzungen limitiertes) Leistungshandeln, das zu Erfolg (Zielerreichung) führt, aber nicht führen muss.
Hirnphysiologisch sind das Motivations- und das Belohnungssystem Teile des Bewertungssystems. Sie sind dopamingesteuert und sitzen in der Area A10, die mit dem Nucleus accumbens (der auch bei der Entstehung von Süchten mitspielt und endogene Opioide produziert) und dem frontalen Kortex verbunden ist.
- Einteilung und Untersuchung der Motive:
* Bedürfnispyramide: Abraham A. Maslow (1908-1970; Vertreter der Humanistischen Psychologie
- s. a. o.,
Mitbegründer der American Association for
Humanistic Psychology) betonte die
ganzheitliche Natur des Menschen und versuchte, durch eine Adaptation des Yoga ohne
religiösen Hintergrund veränderte Bewusstseinszustände zu erlangen. Er beschrieb die
Handlungsmotive als hierarchisch gegliedert. Motive erfüllen für ihn dieselbe
Funktion wie die Triebe für Freud. Motivation hat bei
Maslow dilatorischen
Charakter: erst, wenn die Grundbedürfnisse befriedigt sind, gelangen die nächsthöheren
Motive ins Blickfeld. (Vgl. analog dazu ein Zitat aus der Dreigroschenoper von Bert Brecht:
„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“) Ganz oben steht der von ihm popularisierte Begriff der
Selbstverwirklichung (verstanden als vollständige Äußerung des einzigartigen
Wachstumspotentials eines Individuums). Die Darstellung erfolgt in den verschiedensten Variationen in der bekannten
Maslow-Pyramide (s. Abb. 5/4).
Maslow unterscheidet
2 Motivarten:
° | Mangelbedürfnisse (Defizitmotive; Stufe 1 bis 4, führen tendenziell zu Spannungsverminderung): Sie treten auf, wenn grundlegende Bedürfnisse nicht erfüllt werden (und daher ein Mangelzustand - Defizit - entsteht) und bilden die Voraussetzung für weitergehende Motive. Wenn sie gestillt werden, bringt dies Befriedigung und es entsteht bis zu ihrem erneuten Auftreten kein Handlungsbedarf. |
° | Wachstumsmotive
(Abundanzmotive; ab Stufe 5, führen tendenziell zu
Spannungszunahme): Sie stellen „Luxusbedürfnisse“
nach Stillung der Grundbedürfnisse dar (Abundanz = Überfluss) und sind zum Teil unstillbar.
Nicht Befriedigung, sondern Erfüllung ist ihr Ziel. |
Stufen der Maslow-Pyramide |
|
Stufe 5 | Selbstverwirklichung: Individualität, Talententfaltung, Perfektion, Hobbys, Verfolgung persönlicher Träume ... |
Stufe 4 | Individualbedürfnisse: Anerkennung, Wertschätzung, Selbstachtung, Ruf, Status, Prestige, Respekt ... |
Stufe 3 | Soziale Bedürfnisse: Integration, mitmenschliche Zuwendung, Gruppenzugehörigkeit, Freundschaft, Geselligkeit ... |
Stufe 2 | Sicherheitsbedürfnisse: Gesundheit, festes Einkommen, Kündigungsschutz, Altersvorsorge, Gerechtigkeit ... |
Stufe 1 | Fundamentale Bedürfnisse: Homöostase, Nahrung, Wohnen, Schlafen, Kleidung, Sexualität ... |
Abb. 5/4: Die Maslow-Pyramide (Quelle: Der Standard, 19./20.5.2012)
Vgl. folgende Seite über Maslow. 1970 erweiterte Maslow seine Pyramide um drei Stufen: an die Stellen 5 und 6 setzte er Kognitive Bedürfnisse (Wissen, Meinungsbildung, Fortschritt...) und Ästhetische Bedürfnisse (Schönheit, Ordnung, Kunst und Natur...), an die Stelle 8 Transzendenz (Überschreitung des Weltlichen, Religion, Erleuchtung...). Selbstverwirklichung rückte auf 7 vor. - Zur von Maslow angeregten Positiven Psychologie s. u.
* Reissprofile: Im Rahmen von Personalentwicklung und Coaching haben die im Jahr 2000 beschriebenen 16 Lebensmotive - Macht, Unabhängigkeit, Neugier, Anerkennung, Ordnung, Sparen/Sammeln, Ehre, Idealismus, Beziehungen, Familie, Status, Rache/Kampf, Eros, Essen, körperliche Aktivität, emotionale Ruhe - von Steven Reiss (1947-2016) Bedeutung erlangt. Auf Grundlage eines Fragebogens dienen sie zur Erstellung individueller Persönlichkeitsprofile. Kritik: Entsprechend dem Forer-Effekt (s. o., Barnum-Effekt, Verifikationsphänomen; benannt nach dem Zirkusgründer Phineas Taylor Barnum, 1810-1891) seien die Motive derart vage formuliert, dass sich jeder heraussuchen könne, was auf ihn zutreffe, sodass sich (ähnlich den Horoskopen) nach dem Test das Gefühl einstelle, präzise beschrieben worden zu sein (vgl. a. o. Alltagspsychologie).
Abb. 5/5:
Daniel
Kahneman
* Erwartungsnutzentheorie und Prospect Theory: Die Frage, nach welchen Motiven Menschen handeln und ihre Entscheidungen treffen, beschäftigte im Laufe der Wissenschaftsgeschichte nicht nur die Psychologie, sondern auch die Verhaltensökonomik (s. o.), die das oft irrationale Verhalten des Menschen in Risikosituationen erklären und durch Nudging (s. o.) steuern möchte. Beschrieben werden Entscheidungsfindungen in Situationen der Unsicherheit, in denen die miteinzukalkulierenden Umstände zwischen streng deterministisch und zufällig changieren. Interagieren mehrere Beteiligte, kommt die Spieltheorie „ins Spiel“, die das - scheinbar - rationale Entscheidungsverhalten in Konfliktsituationen ableiten will. (Beispiel: Gefangenendilemma; s. o.)
Seit 1944 dominierte die Erwartungsnutzentheorie (Modell der subjektiven Nutzenerwartung), nach der emotionsfreie, rationale und logisch denkende Entscheider aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen risikoaffin oder risikoavers agieren, je nachdem, in welcher Variante sie ihren Eigennutz zu maximieren erhoffen (geprägt v. a. vom Mathematiker John von Neumann, 1903-1957, und dem Ökonomen Oskar Morgenstern, 1902-1977 - bis 1938 Professor in Wien; beide gelten als Begründer der Spieltheorie; s. a. o.). Ein ideal gedachter homo oeconomicus (Begriff vom italienischen Ökonomen und Soziologen Vilfredo Federico / Wilfried Fritz Pareto 1848-1923) sei ausschließlich von Erwägungen der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit geleitet.
Die 2002 mit dem ersten Nobelpreis an einen Psychologen (Kahneman; Tversky war schon gestorben) ausgezeichnete Prospect-Theorie (auch Neue Erwartungstheorie; „prospect“ als Aussicht auf Gewinn verstanden) von Amos Tversky (1937-1996) und Daniel Kahneman (1934-2024; s. a. o.) modifizierte das Bild vom rationalen Egoismus und erweiterte 1979 die klassische Ökonomie insofern, als sie vernunftgesteuerte Agenten (Homines oeconimici) als Mythos entlarvte und kognitive Verzerrungen miteinbezog (z. B. durch Framingeffekte o. ä., die schon dadurch wirksam werden können, dass ein Entscheidungsproblem etwas anders formuliert wird; s. o.). Erwartete Gewinne und Verluste werden demnach niemals nur vernünftig beurteilt, wenn auch viele Entscheider in dieser Illusion leben. (Zur Entscheidungsfreiheit vgl. a. o.)
Forschungen ergaben, dass Vpn. (unlogischerweise) Verluste stärker gewichten als Gewinne (Verlustaversion). Dies beeinflusst die Risikopräferenzen, sodass z. B. sichere Zahlungen gegenüber höheren, aber unsicheren Gewinnen bevorzugt werden, selbst wenn der Erwartungswert im zweiten Fall höher wäre. Man akzeptiert daher mehrheitlich wegen des zugrunde liegenden Referenzpunktes, des rückläufigen Grenznutzens (des Nutzenzuwaches, den man durch zusätzlichen Konsum eines Gutes erfährt und der bei gleichbleibender Steigerung des absoluten Betrags umso geringer empfunden wird, je höher der Ausgangswert ist) und der angeborenen stärkeren Abneigung vor Verlusten als Neigung zu Gewinnen z. B. im Ex. lieber sichere 800 €, als eine 85%ige Wahrscheinlichkeit auf 1000 € bei gleichzeitigem Risiko von 15% auf 0 € zu ergreifen, obwohl der Erwartungswert im zweiten Fall um 50 € höher ist (0,85 x 1000 + 0,15 x 0). Hingegen wird ein unsicherer, hoher Verlust - bei gleichzeitiger Aussicht auf völlige Verlustvermeidung - gegenüber einem sicheren, aber geringeren Verlust bevorzugt (vgl. auch sunk cost fallacy - s. o. - als fehlerhafte Heuristik). Sind die Optionen gut, ist man also eher risikoavers, sind sie schlecht, ist man risikoaffin (s. a. o.). Die S-förmige Wertefunktion der Entscheider verläuft daher im positiven Bereich konkav und im negativen Bereich konvex (s. Graphik u.; das Gefälle im Minus-Bereich ist etwas steiler als die Steigung im Plus-Bereich).
Abb. 5/6: Prospect-Theorie (Graphik von https://www.researchgate.ne)
Eine Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch der Endowmenteffekt (nach Richard H. Thaler, *1945; Wirtschaftsnobelpreis 2017), nach dem Güter, die man besitzt, als wertvoller eingeschätzt werden als andere (die man erwerben könnte), was ebenfalls rein rationalen Präferenzen widerspricht. Präferenzen sind nicht konstant, sondern von einem Referenzpunkt abhängig. Haben z. B. zwei Vpn. durch Zufall längere Zeit je eines von zwei unterschiedlichen Gütern, die ihnen ursprünglich gleichwertig erschienen waren, - z. B. Grundstücke - in Besitz, so wollen sie wegen der Verlustaversion und des Endowmenteffekts auch dann nicht mehr tauschen, wenn sich herausgestellt hat, dass das eigene Besitztum weniger wert ist als das des/der anderen. Die Veränderung des Referenzpunkts hat zu einer Verzerrung der Entscheidung geführt. Die Nachteile des - objektiv fairen oder sogar vorteilhaften - Wechsels wiegen subjektiv schwerer als rationale Überlegungen. In einem Ex. zum Endowmenteffekt zeigten Thaler und Kahneman, dass der Preis, zu dem Personen eine Kaffeetasse, aus der sie gerade zufällig getrunken hatten, verkaufen würden, signifikant höher liegt als der, um den andere Personen die ihnen unbekannte Tasse kaufen würden.
Wie wir entscheiden, hängt also nicht (nur) von rationalen, sondern von zugrunde liegenden (phylogenetisch viel älteren) emotionalen Systemen ab. (Vgl. z. B. das berühmte Trolley-Ex.: Viele Vpn. würden unter Zeitdruck in Variante 1 aus rein mathematischen Erwägungen eine Weiche stellen, um einen außer Kontrolle geratenen Eisenbahnwaggon nicht auf eine Gruppe von fünf Personen, sondern auf eine Einzelperson zufahren zu lassen, in Variante 2 aber nicht eine korpulente Person aktiv auf das Gleis stoßen, um den Trolley abzubremsen und durch den Tod einer Person den Tod von fünf Personen zu verhindern und schon gar nicht - in einem anderen Setting - eine gesunde Person töten, um durch die Transplantation von deren Organen fünf ansonsten Todgeweihten das Leben retten zu können. Objektiv sind alle Situationen identisch, sie sind jedoch unterschiedlich geframt (s. o.), sodass subjektiv das aktive Eingreifen größeres Unbehagen bereitet als die passive Tötung. Im ersten Fall verblasst das Kant'sche Argument, dass man Menschen niemals als Mittel zum Zweck instrumentieren sollte.)
Ein anderes die Entscheidungsirrationalität bestätigendes Ex. aus den USA wies statistisch
hochsignifikant einen Zusammenhang zwischen neurologischen Reaktionen und dem
Wahlverhalten von Menschen nach: Personen, die stärker mit Ekelgefühlen auf
bestimmte Photos geantwortet hatten, wählten eher die Republikaner als die andere
Gruppe, die mehrheitlich demokratisch wählte. Mehr noch: Ekelneigung eignet sich
für Wahlprognosen besser als Parameter wie Einkommen oder Bildungsstand (s. hier).
Dieses völlig kontraintuitive Phänomen - der Zusammenhang einer scheinbaren
Vernunftentscheidung mit damit gar nicht in Verbindung stehenden emotionalen
Aspekten ist nicht leicht nachvollziehbar - wird dadurch erklärt, dass unsere Entscheidungen
ohne unser Bewusstsein längst durch unser Gehirn
getroffen worden sind, wenn wir sie nachträglich rationalisieren. Auch die
Alltagsmoral des Menschen wird offenbar meist von seiner Emotionalität, nicht
von Vernunftüberlegungen gesteuert. Sind beide
Systeme (das rationale und das emotionale), z. B. durch eine Läsion der
entsprechenden Hirnteile nach einem Unfall, voneinander getrennt, werden auch
alltägliche Entscheidungen zur Qual.
Vgl. Interview mit Kahneman
* Kosten- / Nutzenmodelle: Beeinflusst von ökonomischem Denken - aber auch von den Ergebnissen der moderne Hirnforschung - entstand die Ansicht, dass der Mensch Anstrengung im Grunde vermeide, da man im Alltag für sie häufig nicht belohnt werde und immer das Risiko des Scheiterns eingehe. Jegliche Motivation zu handeln beruhe auf positiver Verstärkung, man tue nichts ohne Belohnung auf materieller bzw. auf hirnphysiologischer Ebene. Auch Neugier und Forscherdrang oder durch Empathie begünstigte prosoziale Grundmotivationen unter Hintanstellung des persönlichen Wohlergehens würden deshalb auftreten, weil sie Belohnungszentren im Gehirn stimulieren. Es könne sogar Anstrengung selbst zum (sekundären) Verstärker werden, wenn durch soziale Vermittlung erlernt worden sei, dass an ihrem Ende eine womöglich noch lohnendere Situation als die durch ihre Vermeidung erzielte warte. (Dies wird allerdings dadurch erschwert, dass wir nicht in einer Leistungsgesellschaft, in der Anstrengung geschätzt wird, sondern in einer Erfolgsgesellschaft, in der das - womöglich anstrengungslose - Ergebnis bewundert wird, leben.)
Nach der 1959 erstmals formulierten Interdependenztheorie vom Lewin-Schüler John Walter Thibaut (1917–1986) und Harold Harding Kelly (1921-2003) beeinflussen Menschen wechselseitig ihre Interaktionen, um zu einem möglichst positiven Ergebnis (Nutzen minus Kosten) zu gelangen. Dieser Ansatz enthält sowohl motivationspsychologische (Menschen streben nach Benefits und vermeiden Kosten) wie auch kognitive (diese werden bewertet) Elemente.
Vgl. Sozialpsychologie-Skriptum
* Sozialpsychologie ist eine in den 20er-Jahren unter dem Einfluss von Kurt Tsadek Lewin entstandene Forschungsrichtung, die sich damit beschäftigt, wie individuelles Verhalten durch soziale Interaktion entwickelt und modifiziert wird bzw. welche Gesetzmäßigkeiten innerhalb sozialer Gemeinschaften zu beobachten sind. Beobachtungsgegenstand sind „die Auswirkungen der tatsächlichen oder vorgestellten Gegenwart anderer Menschen auf das Erleben und Verhalten des Individuums“ (Gordon Allport, 1897-1967).
Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass der Mensch ein der Gemeinschaft mit anderen Menschen bedürfendes Lebewesen ist (vgl. Aristoteles: „ὁ ἄνθρωπος φύσει πολιτικὸν ζῷον“; s. o.), das im Fall einer Deprivation (Reizentzug, in diesem Fall Fehlen von Sozialkontakten) das von Alexander Harbord Mitscherlich (1908-1982; beobachtete 1946/7 die Nürnberger Ärzteprozesse, prägte den Begriff „vaterlose Gesellschaft“ und wurde durch das gemeinsam mit seiner Frau Margarete, 1917-2012, verfasste Buch Die Unfähigkeit zu trauern bekannt) so genannte Kaspar Hauser-Syndrom entwickelt (vgl. auch Hospitalismus, s. o.). Einer der ersten, der die Bedeutung der sozialen Interaktion für das Individuum erkannt hat, war George Herbert Mead (1863-1931). Er wies darauf hin, dass wir uns mit den Augen eines Fremden sehen und daraus Schlüsse über unser Selbst ableiten können.
* Soziologie als Nachbardisziplin interessiert sich im Unterschied zur Sozialpsychologie nicht für die psychischen Prozesse unter dem Einfluss sozialer Faktoren, sondern für die empirisch erforschbaren objektiven Muster (patterns) der menschlichen Gesellschaft, die Voraussetzungen, Abläufe und Folgen des Zusammenlebens. (Vgl. z. B. Symbole und Rituale)
ERSCHEINUNGSFORMEN SOZIALER KOLLEKTIVE
Unter sozialen Kollektiven versteht man Ausschnitte der Gesamtbevölkerung, die nach verschiedenen Gesichtspunkten erstellt worden sind. Für die Psychologie sind die Begriffe Menge, Masse und Gruppe entscheidend. Es ist zu beachten, dass der Übergang von einem zu einem anderen Kollektiv sehr schnell gehen kann (z. B. wird das Verhalten eines Menschen, der in einer Gruppe von Freunden ein Fußballballmatch besucht, dort oft rasch zum Verhalten eines Massenmenschen umgeformt.)
- Menge:
Unter einer Menge versteht man die unorganisierte, zufällige Ansammlung von Menschen, die nur durch
die jeweilige Situation
(z. B. Passanten derselben Fußgängerzone), in der sie sich gerade befinden, miteinander verbunden sind. Jeder
hat sein Ziel, es gibt aber kein gemeinsames Ziel. Sozialpsychologisch ist die
Menge wenig
interessant, da keine psychischen Beziehungen zwischen ihren Elementen bestehen.
Ausnahme: der
* (Non helping) Bystander-Effekt: Die Anwesenheit weiterer Anwesender verringert die Wahrscheinlichkeit, dass im Bedarfsfall Bedürftigen Hilfe geleistet wird, da durch die (als solche empfundene) Verantwortungsdiffusion (aufgrund aufgeteilter Verantwortung) und pluralistischer Ignoranz (die das Gefühl gibt, Nichtstun sei in Ordnung, da ja auch alle anderen nichts tun) ein Verhalten begünstigt wird, das sogar die Strafbarkeit des eigenen Verhaltens verdrängen kann (in Österreich nach § 94 bzw. § 95 StGB). Nach dem historischen Fall der in New York vor Dutzenden Ohrenzeugen ermordeten Kitty Genovese (1935-1964) wird dieses Phänomen auch Genovese-Effekt genannt. (Der Effekt wurde von John M. Darley, 1938-2018, und Bibb Latané, *1937, wissenschaftlich untersucht; vgl. a. Didier Decoin, *1945, Est-ce ainsi que les femmes meurent? / Der Tod der Kitty Genovese, ersch. 2009, auf Deutsch 2011.) Weitere Fälle: Am 26. 12. 2014 stirbt in Wien ein in einem U-Bahn-Lift zusammengebrochener obdachloser Mann, weil fünf Stunden lang niemand der vielen Passanten, die denselben Lift benutzten, einen Notruf absetzte oder anderweitig reagierte (s. hier). - Am 29. 7. 2022 wird in einem italienischen Adriabadeort vor den Augen zahlreicher, nicht eingreifender Schaulustiger, die zum Teil mit ihren Handys mitfilmen (und damit von der Menge zur Masse konvertieren), ein gehbehinderter nigerianischer Straßenhändler von einem rabiaten Italiener erschlagen (s. hier).
Vgl. auch das dem Priming-Effekt (s. o.) geschuldete Phänomen, dass bei Beobachtung kleinerer Gesetzesübertretungen (z. B. weggeworfenem Müll, beschmierten Hauseingängen etc.) auch größere Übertretungen (z. B. Diebstähle) - manchmal sogar durch ansonsten völlig unauffällige Personen - häufiger auftreten als sonst. Die Beobachtung einer defekten oder dysfunktionalen Umgebung setzt die Schwelle zu deviantem Verhalten herab. (Deshalb ist Kriminalität auf herabgekommenen Bahnhöfen weiter verbreitet als auf modernen Flughäfen, deshalb hinterlassen Schüler ihre Fußabdrücke auf weißen Wänden hauptsächlich in Schulgebäuden, deren Äußeres schon von Vornherein dazu „einlädt“.)
- Masse:
Die Masse entsteht (oft aus einer Menge, ev. auch Gruppe), wenn, manchmal nur
vorübergehend, ein zentrales Ereignis, eine Leidenschaft, eine Erregung, eine
Hoffnung, ein Augenblicksziel oder
eine Führerfigur in den Mittelpunkt geraten und somit unter bestimmten,
zeitlich bedingten gefühlsmäßig gebundenen Voraussetzungen temporäre Übereinstimmung in
Fühlen und Handeln entsteht. Sie erscheint als ruhende oder als aktive Masse und weist
folgende Merkmale auf:
* Anonymität: Individuelle
Verhaltensweisen verflüchtigen sich zugunsten übereingestimmten, trieb- und
instinktgesteuerten Handelns im Banne der Leidenschaften. Damit verbunden ist
ein subjektiv so empfundenes Schwinden der persönlichen Verantwortung, sodass
in der Masse Dinge getan werden (z. B. im Sprechchor einen Schiedsrichter zu
beschimpfen), zu denen ein Einzelner nie imstande wäre (Deindividuation).
* Fokussierung: Die Masse ist auf eine Führerfigur oder ein Leitereignis
(z. B. Unfall, Fußballmatch, Popkonzert, politische Rede) hin zentriert.
* Organisationsniveau: Das Niveau der psychischen Organisation ist niedrig.
Die Beziehungen der Mitglieder der Masse, die einander nicht bekannt sein müssen, sind
primitiv. Im Gegensatz zur Menge haben alle dasselbe Ziel. Die einzige Gliederung ist die
zwischen Führer und Geführten. Ansonsten besteht eine Tendenz zur
Gleichschaltung und Gleichförmigkeit. Im Zeitalter der Vereinzelung vor
Bildschirmen ist es nicht mehr notwendig, dass Mitglieder der Masse einander
physisch nahe sind. Die sozialen Netzwerke übernehmen die Rolle des Fokus und
können, begünstigt durch den Online-disinhibition-Effects
(Hemmungswegfall im Vergleich zu persönlicher Kommunikation), zum Mob entarten.
* Affektlastigkeit: Vernunft und Intelligenz treten zugunsten der Affekte zurück, die
Masse ist daher instinkt- bzw. gefühls-, nicht vernunftgesteuert und wird
dadurch manipulierbar. Sie erlebt den „heiligen Schauer“ (Begeisterung,
Enthusiasmus; wenn z. B. 60 000 Menschen in einem Stadion „You'll never walk alone“ von Richard
Charles Rodgers,
1902-1979, Text von Oscar Greeley
Clendenning Hammerstein
II, 1895-1960, singen). Hemmungen, die in der Kleingruppe wirksam sind, fallen dabei weg.
(Vgl. in diesem Zusammenhang Konrad
Lorenz: „Mitsingen heißt, dem
Teufel den kleinen Finger reichen.“)
* Suggestion: Die Masse ist der Suggestion (s. o., Methoden: Repetition =
Wiederholung, Persuasion = Überredung, Frappierung = Überrumpelung,
Konformierung =
Gleichschaltung, Symbolisation = Sinnbildwirkung, Repudiation = Nichtanerkennung,
Zurückweisung, ironische Gegensuggestion) leicht zugänglich, die Suggestibilität
(vgl. auch Trance-Tänze) ist im Vergleich zu Einzelpersonen oder Gruppen
deutlich erhöht. Das Gemeinschaftsgefühl und die Gleichschaltung werden dabei oft durch geschickte
Wahl von Symbolen und andere Beeinflussungsmittel, v. a. Massenmedien, geschürt (vgl. die Ästhetisierung der Politik in der NS-Zeit). Die Indoktrinierbarkeit
(laut Lorenz neben Übervölkerung,
Verwüstung des Lebensraumes, Wettlauf mit sich selbst, Wärmetod des Gefühls,
genetischer Verfall, Abreißen der Tradition und Kernwaffen die siebente der Acht Todsünden der zivilisierten Menschheit) ist hoch,
die Suggestivkraft irrationaler und pseudologischer Inhalte (z. B.
Verschwörungstheorien;
s. a. o.) oft erstaunlich
wirksam.
(Zur Rezeption und Aufdeckung von scheinbar tiefgängigem Schwachsinn /
pseudo-profundem Bullshit siehe folgenden
mit dem „IG-Nobelpreis“ ausgezeichneten
Aufsatz
kanadischer Forscher. Dabei verwendete Methoden: Fakten ignorieren /
Dinge aus dem Zusammenhang reißen / irgendetwas so oft behaupten, bis es einsickert / scheinbare Autoritäten
zitieren / sinnlose Fremdwörter verwenden / Ahnungslosigkeit als tiefere
Wahrheit verkleiden / scheinbare Gegensätze konstruieren / übertreiben / Schreckgespenster
malen / Klischees bedienen / ablenken / nicht falsifizierbare Sätze formulieren
/ Korrelation mit Kausalität gleichsetzen / Meinungen nicht von Tatsachen
unterscheiden
/ unterschwellig Angst machen.)
* Identifikationsneigung: Es besteht eine hohe Bereitschaft zur
Identifikation miteinander bzw. den Anführer/innen, denen - auch in harmlos
scheinenden Ausgangssituationen - eine besondere Verantwortung zukommt.
* Repertoire der Verhaltensformen: ist in der Masse stark begrenzt
(s. o, Anonymität). Es dominieren
gleichförmige Bewegungen wie organisiertes Aufstellen (z. B. im Stadion), Bei-, Missfallenskundgebungen wie Klatschen,
Trampeln, Johlen, Pfeifen etc. Durch Aufputschen verursacht, kann es leicht zu aggressivem
Verhalten kommen. Oft lässt sich eine gewisse auf Steigerungsfaktoren (bis zur Ekstase) und - bei längerer
Dauer - retardierenden Momenten beruhende Dramaturgie erkennen. Das Vorherrschen von
Affekten und Trieben führt zu
° | Tumult: blindwütiger, durch eine Führerfigur lenkbarer Aufruhr der Masse, der sich wellenartig fortpflanzt und anschwillt oder verebbt, wenn kein belebender Widerstand die Tendenz zur Polarisierung und Konfrontation speist, und aufgestauten Aggressionen zum Durchbruch verhilft. (Beispiele: manche Demonstrationen, das Europacupfinale im Brüsseler Heysel-Stadion 1985, Fälle von Lynchjustiz etc.) |
° | Panik: ist das Angstverhalten der Masse, das oft sinnlose Flucht, etwa bei Bränden (z. B. Wiener Ringtheaterbrand vom 8. 12. 1881, bei dem die Masse gegen die nach innen - dann nicht mehr - zu öffnenden Türen rannte und dadurch 100e Tote verursachte, was zur Einführung des Eisernen Vorhangs führte) beinhaltet, die unter Ausschaltung der Vernunft den Schaden nur noch vergrößert. Panik ist auch ohne objektive Bedrohung möglich, z. B. im Gedränge. (Beispiele: Am 4. 12. 1999 wurden im Berg Isel-Stadion in Innsbruck nach einem Snowboardevent beim Abgang von 45 000 Zuschauern sieben Menschen getötet und viele schwer verletzt. - Am 24. 6. 2010 kostete eine Massenpanik bei der Loveparade 21 Menschen das Leben. - In der Nacht zum 30. 4. 2021 starben 44 Menschen auf dem Meronberg in Israel, als im Rahmen des jüdischen Lag Baomer-Festes unter den 100 000 Besuchern eine Massenpanik ausbrach. - Am 29. 10. 2022 bewirkte dieselbe Ursache sogar über 150 Tote bei Halloweenfeiern in Seoul. |
* Massenpsychologie ist seit ca. 1900 das Thema zahlloser Autoren. Die Bevölkerungsexplosion im 19. Jhdt. hatte die Massenbildung begünstigt und damit die Beobachtung der damit zusammenhängenden Phänomene enorm gesteigert. (Von 1800 bis 1941 stieg die Bevölkerung allein in Europa von 178 Mio. Ew. auf 571 Mio, bis 2021 auf ca. 750 Mio., weltweit von 1 Mia. im Jahr 1800 auf über 8 Mia. bis 2023. Im Jahr 2020 lebte von allen Personen, die bis dahin jemals in der Geschichte der Menschheit das 60. Lebensjahr überschritten hatten, noch über die Hälfte! Der Autor dieses Kompendiums ist die Nummer 2 880 803 501: vgl. hier. Prognose: Bis 2080 10,4 Mia. Menschen, danach gleichbleibend. Ohne Berücksichtigung der Migration ist in den afrikanischen Ländern das Bevölkerungswachstum mit Abstand am höchsten.)
Wichtige Vertreter:
° | Gustave Le Bon (1841-1931) bemerkt 1895 in seinem Buch Psychologie der Massen zum ersten Mal die bedeutende Rolle der Masse im Leben der Völker. („Die Masse denkt nicht logisch, sondern in Bildern, und ist nur wenig intelligent.“) Er erkennt die Gefährdung des Individuums der modernen Industriegesellschaft durch totalitäre Ideologien. In der Masse würden höhere Funktionen des Individuums gebremst und niedere Instinkte gefördert. |
Freud bezog sich 1921 auf dieses Werk in seinem Buch Massenpsychologie und Ich-Analyse - s. hier -, in dem er nachwies, dass der Mensch neben rationalen vorwiegend irrationale, gefühlsbetonte Motive für sein Handeln habe; eine Masse werde von der Illusion zusammengehalten, dass die Liebe des Führers gleichzeitig allen zugutekomme. | |
° | José Ortega Y Gasset (1883-1955): Der spanische Kulturphilosoph beschreibt 1930 in Der Aufstand der Massen (La rebelión de las masas) das Heraufkommen der Massen zu sozialer Macht und einen Prozess der Vermassung dadurch, dass die Tendenz, in einem Kollektiv aufzugehen, immer stärker wird und Menschen tonangebend werden, die die psychischen Charakteristika der Masse aufweisen. |
° | Raymond Battegay (1927-2016) meint in Der Mensch in der Gruppe 1967 (gegen Ortega), dass sich nicht nur niveaulose, sondern auch intelligente Menschen vom Massengeschehen mitreißen ließen und zunehmende Bildung keine Hoffnung auf mehr Individualität bieten könne. |
° | Elias Canetti (1905-1994; Literaturnobelpreis 1981), ein altösterreichisch-bulgarisch-schweizerisch-englischer Schriftsteller, beschreibt 1960 in Masse und Macht die Allgegenwärtigkeit der Masse und ihren dialektischen Zusammenhang mit dem Problem der Macht. Er unterscheidet zwischen zahllosen Massen: Hetzmasse (die töten will), Fluchtmasse (weicht einer Drohung), Verbotsmasse (z. B. Streikende), Umkehrungsmasse (bei Revolutionen), Ringmasse (im Stadion) usw. Canetti bringt Beispiele aus archaischen Gesellschaftsformen und weist auf die Wichtigkeit von Symbolen für die Masse hin, die nicht nur den Einzelnen, sondern ganze Völker beherrschen, auch wenn sie nur imaginiert sind. |
Zur Massenpsychologie vgl. a. o. Wilhelm Reich sowie Seite 1, Seite 2, Seite 3, Video 1, Video 2
- Gruppe:
Im Gegensatz zur Masse besteht die Gruppe aus einer nicht allzu großen Anzahl von
Personen, die einander persönlich kennen und ein Rollensystem entwickelt haben.
Kurt Lewin
definierte 1948: „The essence of a group is not the similarity or
dissimilarity of its members, but their interdependence. A group can be
characterized as a 'dynamic whole'; this means that a change in the state of any
part changes the state of any other part. The degree of interdependence of the
subparts of members of the group varies all the way from 'loose' mass to a
compact unit.“ - Auf
Gruppen beziehen sich folgende
Merkmale und Theorien:
* Intellektuelle und emotionale Interaktion: Jedes Mitglied steht zu jedem anderen in einer Beziehung, ob es dies wahrhaben will oder nicht. Auch Interaktionsverweigerung definiert eine Beziehung.
* Sozialdistanz: So wird der emotionale Abstand zu anderen Gruppenmitgliedern (er ist nicht - wie in der Masse zu jedem gleich) genannt. Die diesbezüglichen Zustände in einer Gruppe sind durch das Soziogramm darstellbar (s. u.).
* Organisationsniveau: Die Beziehungen innerhalb einer Gruppe weisen eine hochwertige (daher oft schwer erkennbare) Organisation auf, die sich entwickeln kann (s. u. Gruppendynamik).
* Rollen: Mitglieder einer Gruppe übernehmen - bewusst oder unbewusst - Rollen, die bei den anderen Gruppenmitgliedern Verhaltenserwartungen zur Folge haben bzw. umgekehrt von diesen Erwartungen ausgelöst werden. (Der Begriff ist in Analogie zum Theater entstanden, vgl. o. Psychodrama.) Rollen werden nur teilweise durchschaut und dienen der sozialen Orientierung. Die Nichterfüllung einer Rollenerwartung führt in der Gruppe zu Rollenkonflikten. Die Rollenverteilung kann starr (z. B. Lehrer - Schüler) oder flexibel (z. B. im Freundeskreis) sein.
Rollen existieren auch - unabhängig von Gruppen - in der Gesellschaft überhaupt. Immer wieder diskutiert werden z. B. seit dem 1949 erschienenen Buch Le deuxième sexe von Simone de Beauvoir, 1908-1986, die Geschlechterrollen, deren Übernahme nicht (nur) biologisch (engl. sex), sondern auch kulturell (engl. gender) erklärt werden kann. („On ne naît pas femme: on le devient“, wobei das letzte Wort - s. hier - ein Aktiv-, kein Passivverb ist.)
* Führung: Die Bedeutung einer Führerfigur ist in der Gruppe beschränkt; man unterscheidet trotzdem zwischen führerzentrierten Gruppen (z. B. Sportlehrgang) und gruppenzentrierten Gruppen (z. B. Kegelabend). Die möglichen Führungsstile entsprechen den Erziehungsstilen von Lewin (s. o.).
* Gruppenzugehörigkeit: ist (letztendlich immer) freiwillig. Die meisten Menschen sind Mitglied mehrerer Gruppen. Man unterscheidet informelle Gruppen (z. B. Freundeskreise) von formellen Gruppen (z. B. Schulklassen). Es besteht eine Wechselwirkung zwischen vermehrten Möglichkeiten (z. B. zu einer sonst vielleicht nicht in diesem Ausmaß entwickelten Kontakt- oder Leistungsfähigkeit) und Freiheiten (z. B. in Gewerkschaftsgruppen) und freiwilliger Selbstbeschränkung (z. B. bei Sitzungen, s. a. u.).
* Tendenz zur Stimmungsübertragung und zur Angleichung der Mitglieder. Diese erfolgt sowohl äußerlich (z. B. passen durch den Chamäleoneffekt - auch ideomotorischer Effekt oder Carpenter-Effekt nach William Benjamin Carpenter, 1813-1885 - Menschen ihre Körperhaltung, z. B. Vorbeugen, oder ihre Verhaltensweisen, z. B. Gähnen, ihrer Umgebung an) wie auch innerlich: Es entwickeln sich Einstellungen und soziale Normen (= die von allen geteilte Erwartung in Bezug auf das Verhalten und Denken in bestimmten Situationen), oft auch Vorurteile (= vorläufige Urteile, die auch nach Bekanntwerden neuer Informationen nicht korrigiert werden) und Stereotype (= kollektive Klassifikationen und Urteile, meist ungerechtfertigte Generalisierungen und Verallgemeinerungen, die unsere angeborene Tendenz zur Mustererkennung auch dort, wo keine sind, bedienen; vgl. Jeremy Bentham, 1748-1832: „There are two types of people in this world, those who divide the world into two types and those who do not.“):
Stereotyp - Einstellung - Vorurteil |
||
Stereotyp: Unter einem Stereotyp versteht man seit 1984 ein subjektives Wahrscheinlichkeitsurteil über das Bestehen einer Verbindung zwischen einem Objekt und einem Attribut (nach Ernst Joachim Wolfgang Stroebe, *1941). Stereotype beziehen sich meist auf soziale Gruppen bzw. Personen aufgrund ihrer Zuordnung zu solchen Gruppen. Einstellung: |
||
° | beinhalten Bewertungen | |
° | sind in Gedanken abgespeicherte und abrufbare Wissensstrukturen | |
° | enthalten affektive, kognitive und konative Komponenten. | |
+
affektiv: Bewertung und emotionale Orientierung auf Personen
oder soziale Sachverhalte + kognitiv: Wahrnehmungen, Überzeugungen und Erwartungen in Bezug auf Personen oder soziale Sachverhalte + konativ: Verhaltensrelevanz beziehungsweise Prädisposition in Bezug auf ein bestimmtes Einstellungsobjekt |
||
(= Drei-Komponenten-Konzeption) |
||
Vorurteil: Vorurteile sind bestimmte Einstellungen, die mit Bewertungen verbundene Überzeugungen, Meinungen und Erwartungen über Eigenschaften und Merkmale bestimmter Personengruppen oder ihnen kategorisch zugeordneter Personen enthalten und daraus resultierende emotionale Reaktionen und Verhaltensprädispositionen nach sich ziehen. Es handelt sich um Übergeneralisierungen bei zugleich mangelnder Informationslage. (Wenn sie auch nach Vorhalt ihnen widersprechender Fakten nicht aufgegeben werden, können sie sich zu Verschwörungstheorien verfestigen - s. a. o.) |
Elliot Aronson (*1932) schlug zum Abbau von Vorurteilen die Kontakthypothese vor: durch persönliche Begegnungen würden sich negative Einstellungen ändern lassen. - Zu diesem Thema vgl. a. u. Rassismus und Stereotype und Vorurteile: Konzeptualisierung, Operationalisierung und Messung.
Der Weg vom Vorurteil zur Vernichtung wurde von Gordon Allport (1897-1967) beschrieben. Bekannt wurde das Konzept als
Allport-Skala
° | Verleumdung: Das freie Aussprechen von Vorurteilen gegenüber anderen (Antilokution) ist innerhalb der eigenen Gruppe beobachtbar. |
° | Vermeidung: Das Vorurteil wird so stark, dass der Kontakt zum Opfer, auch wenn dies Unannehmlichkeiten bedeutet, unterbleibt. |
° | Diskriminierung: Man versucht, die Opfergruppe aktiv von gesellschaftlichen Zusammenhängen auszuschließen. |
° | Gewaltanwendung: Gesteigerte Emotionalität und Aufhetzung führen zu Gewalt gegen Personen oder Sachen. |
° | Vernichtung: Sie bedeutet die höchste Stufe der Auswirkung eines Vorurteils (z. B. in Form von Pogrom, Lynchjustiz, Völkermord). |
* Kognitive Dissonanz: Eine Angleichung erfolgt nicht nur in Richtung anderer Personen, sondern auch sozusagen innerhalb der eigenen Person in Bezug auf die Einstellung im Verhältnis zum Verhalten. Die diesbezüglich zentralen Begriffe heißen Konsonanz (die angestrebt wird) und Dissonanz (die vermieden werden will). Sie bezeichnen in diesem Zusammenhang die (fehlende) Übereinstimmung eigener Überzeugungen mit den gewählten Verhaltensweisen. (Irrelevanz liegt vor, wenn kein Zusammenhang zwischen zwei kognitiven Inhalten besteht.) Es kann also vorkommen, dass eine Person Rechtfertigungsbedarf gegenüber ihrer Umgebung, vor allem aber gegenüber sich selbst verspürt, wenn sie etwas getan hat, das ihrer Einstellung widerspricht. (Den Wunsch nach Widerspruchsfreiheit des individuellen Verhaltens nennt man Konsistenzbedürfnis. Die Theorie ist eine der Einstellungstheorien der Sozialpsychologie, die sich damit befassen, unter welchen Bedingungen und warum Menschen ihre Einstellungen - also die Bereitschaft, Situationen, Objekte, Menschen oder Menschengruppen zu bewerten - ändern.)
Zugrunde liegt Psychologische Reaktanz (die Motivation zur Wiederherstellung eingeengter oder eliminierter Freiheitsräume; lässt sich auch auf Situationen, in denen der Reiz des Verbotenen wirkt, anwenden). Vorausgesetzt werden nach der Theorie von der kognitiven Dissonanz folgende
4 Bestimmungsstücke:
° | Verhalten und Einstellung werden als widersprüchlich empfunden. |
° | Das Verhalten geschah freiwillig. |
° | Physiologische Erregung tritt ein. |
° | Das Verhalten wird für die Erregung verantwortlich gemacht. |
Die Theorie der kognitiven Dissonanz wurde 1957 vom US-amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger (1919-1989; einem Schüler von Lewin) aufgestellt. Nach ihr ändern Personen ihre Einstellungen umso eher, je stärker ein Verhalten, das nicht mehr geändert werden könne, von ihren ursprünglichen Überzeugungen abweiche. Ziel sei es nun, die Evidenz konsistent zu den Überzeugungen zu machen (notfalls durch Uminterpretation der Fakten: wenn man sein Verhalten nicht mehr ändern kann, ändert man nachträglich die Tatsachen). Der Grad der Einstellungsänderung verhalte sich proportional dem Grad der kognitiven Dissonanz, dem unangenehmen Gefühlszustand bei Vorhandensein mehrerer, miteinander unvereinbarer Kognitionen. (Das zugrunde liegende Muster wird literarisch in der Fabel Αλώπηξ καì βότρυς von Äsop (Αἴσωπος; vermutlich 6. Jh. v. Chr.) bzw. De vulpe et uva von Phaedrus (ca. 20 v.-50 n. Chr; dt. Der Fuchs und die Trauben) und in der Zaunstreichszene in Tom Sawyer von Mark Twain (eig. Samuel Langhorne Clemens 1835-1910) gestaltet. Das in diesen Texten Geschilderte kann als Reduktion der kognitiven Dissonanz interpretiert werden (s. a. o. unter Rationalisierung). Festingers Erkenntnisse fanden u. a. in der Werbepsychologie große Beachtung. (Verkäufer versuchen eventuelle Dissonanzen der Käufer zu reduzieren.) Mit James Merrill Carlsmith (1936-1984) erstellte Festinger 1959 folgendes
Ex. zur kognitiven Dissonanz:
Vpn wurden veranlasst, an einem sehr
langweiligen und zeitaufwändigen Experiment teilzunehmen. Anschließend sollten
sie noch wartenden Personen erzählen, dass das Experiment interessant gewesen
sei. Für diese (Falsch)aussage bekamen sie entweder $ 1 oder $ 20. Nachher
wurden sie gefragt, wie sie das Experiment wirklich gefunden hätten.
Überraschenderweise zeigte sich, dass die Vpn, die nur $ 1 Entlohnung für ihre
falsche Aussage erhalten hatten, bei der Befragung zu einem weit höheren
Prozentsatz angaben, das Experiment sei interessant gewesen als die Vpn, die mit
$ 20 bezahlt wurden. Diese bewerteten bei der Befragung das
Experiment großteils
als langweilig und uninteressant. - Erklärung: Die unangemessen geringe
Entlohnung von $ 1 für die falsche Aussage erzeugte in der ersten Gruppe kognitive Dissonanz, da das
Verhalten der eigenen Einstellung widersprach. Die Vergleichsgruppe verspürte
eine geringere Dissonanz, da sie ihr Verhalten auf äußere Faktoren (Belohnung)
zurückführen konnte. Dies führte dazu, dass die erste Gruppe eher Anlass
verspürte, ihre Einstellung
nachträglich an das Verhalten anzupassen, um Konsistenz (gedankliche
Harmonie) wiederherzustellen. (Wiedergegeben nach http://www.werbepsychologie-online.com) |
Manchmal als Gegensatz dazu gesehen wird die Selbstwahrnehmungstheorie von Daryl J. Bern (*1938), nach der Menschen ihre Einstellungen und Gefühle aus dem eigenen Verhalten ableiteten. (Wer z. B. aufgrund äußerer Ursachen - aber zustimmend - affirmative Äußerungen über ihm/ihr fern stehende Personen machen müsse, habe danach eine positivere Einstellung zu diesen Personen, da ein Selbstwahrnehmungsvorgang zu einem das eigene Verhalten analysierenden, auf das Selbst bezogenen Attributionprozess geführt habe.)
* Gruppendruck und Konformität: Alle Gruppen (z. B. Peer Groups, also vorbildhafte Leitgruppen) entwickeln einen gewissen Gruppendruck, der auch die Wahrnehmung beeinflussen kann und zu Konformität (Tendenz zur Übereinstimmung mit den Normen der Bezugsgruppe) führt, wie ein bekanntes Ex. von Solomon Asch (1907-1996) aus dem Jahr 1951 zeigt: Eine von drei Linien ist genauso lang wie eine vierte, zuvor projizierte. Sie soll identifiziert werden. Sind nun alle „Teilnehmer“ dieses Exs mit Ausnahme des einzigen (oder der wenigen) unwissentlich tatsächlich getesteten mit dem Vl. im Bunde und geben (öffentlich) übereinstimmend eine völlig falsche Lösung an, so werden die nicht Eingeweihten immer unsicherer, bis sie (meist) von ihrer ursprünglichen - richtigen - Lösung abgehen. Asch hatte also durch Gruppendruck die Vpn. dazu gebracht, offensichtlich falsche Aussagen als richtig zu erachten. Wie später Milgram (s. u.) bewies er, dass Menschen gegen ihre Werte und Überzeugungen handeln (können), wenn die Macht der sozialen Situation groß genug ist. Als 2005 Gregory Berns in einem Wiederholungsversuch die Vpn. mittels Magnetresonanztomographie (s. o.) kontrollierte, stellte sich heraus, dass die Verleugnung der eigenen Sichtweise vom Gehirnareal für räumliche Wahrnehmung und nicht von dem für kognitive Widersprüche bewältigt wird. Die Wahrnehmung verändert sich also tatsächlich. (Mit Täuschungen und Irrtümern muss also schon aufgrund unserer Hirnbeschaffenheit immer gerechnet werden, sodass das Motto nach Samuel Beckett, 1906-1989, lauten muss: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“)
Unter instrumenteller Konformität versteht man die von Edward E. Jones (1926-1993) untersuchte Ingratiation (das Einschmeicheln), bei der man eine Einstellungsänderung einer Person dadurch zu erreichen versucht, dass man bezüglich eines unwichtigeren Themas Übereinstimmung bekundet (oder heuchelt), um durch diese Taktik die eigentlich gewünschte Einstellungsänderung bei einem bedeutsameren Thema zu erreichen.
Dan Kahan, *1965?, wies 2013 in einem Ex. in den USA nach, dass die politische Einstellung von Vpn. bzw. ihre (unbewusste) Angst, von ihrer Gruppe nicht mehr anerkannt zu werden, Einfluss auf ihre mathematische Performance hatte: Aus denselben zur Verfügung gestellten Statistiken berechneten Demokraten andere Tendenzen als Republikaner, als sie aufgefordert wurden herauszufinden, ob ein Waffenverbot die Kriminalitätsrate senke. Kahan bezeichnete dieses Phänomen als „identitätsschützenden Denkfehler“.
Weniger harmlos wirkte Gruppendruck 1978 im bekannten „Jonestown-Massaker“, als Anhänger des Sektengurus James Warren Jones (1931-1978) in Guyana auf dessen Anweisung hin sich und ihre Kinder vergifteten (über 900 Tote; die Situation wäre auch als Massenpsychose oder -hypnose beschreibbar).
Die Puppenstudien von Kenneth B. Clark (1914-2005) und Mamie Phipps Clark (1917-1983) wurden anhand folgenden Ex.s durchgeführt: Kinder sollten jene der zahlreich herumliegenden und mit verschiedener Hautfarbe gestalteten Puppen wählen, mit der sie am wenigsten gern und die, mit der sie am liebsten spielen würden, bzw. die sie am hässlichsten / am schönsten fanden. Das Ergebnis zeigte, dass ein in der Gesellschaft vorherrschender Rassismus auch von der diskriminierten Gruppe selbst übernommen wird: auch dunkelhäutige Kinder konnotierten in der Mehrzahl die weißen Puppen positiv, die dunkelhäutigen negativ. (Vgl. a. o.1 unter Vorurteil und u.1 und u.2 zu Rassismus)
Abb. 5/7:
Stanley
Milgram
Das bekannteste (und vielfach variierte), nicht unbedingt auf Gruppendruck im engeren Sinne basierende Ex. zu Konformität und Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten allgemein (und eines der berühmtesten psychologischen Ex.e überhaupt) ist das 1961 von Stanley Milgram (1933-1984; vgl. auch diese Seite) entworfene
Vpn. waren in einem vorgeblich
(gemäß der Cover Story) der Wissenschaft dienenden
Ex. bereit,
unter Anleitung einer „die Verantwortung übernehmenden“ + Autorität mit Dominanz-Haltung
aufsteigend
Elektroschocks von 15 Volt bis zu tödlichen 450 Volt wissentlich Menschen
„zur Strafe für missglückte Lernvorgänge“ zu verabreichen, auch wenn sie die
(in Wirklichkeit von einem Schauspieler vorgetäuschten) Reaktionen sahen. (In
der Grundversion taten dies 62,5% der Untersuchten. Die überlieferten Zahlen differieren
je nach Setting: je näher z. B. „Lehrer“ und „Schüler“ einander kommen, desto
eher wird verweigert. Verlässt der Testleiter den Raum, sinkt die
Gehorsamsbereitschaft gar um zwei Drittel.) Wichtig für das Setting des Ex.s war es, glaubhaft die natürliche Autorität einer anerkannter Institution zu vermitteln (Universität als Location, „Professoren“ im weißen Mantel etc.), der man vereinzelt gegenüberstand, und eine hierarchische Befehlsstruktur zu erzeugen, die es den Vpn. ermöglichte, sich nicht verantwortlich fühlen zu müssen („Weißkittel-Effekt“). |
Fazit: Der Inhalt einer Anweisung ist in Relation zur Person, die sie äußert, relativ unwichtig. Es scheint eine Prädisposition zum Gehorsam gegenüber dominanten Personen zu geben. (Vgl. dazu das bekannte Zitat von Hannah Arendt, 1906-1975: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“) Das Finden einer möglichen Erklärung für die Vorgänge in der NS-Zeit, auf die sich Arendt bezog, war auch für Milgram Motiv, sein Ex. durchzuführen. Er wollte darüber hinaus die Frage klären, ob nur Deutsche - oder eventuell auch US-Amerikaner - zu derart furchtbaren Verbrechen fähig wären. Milgram, der also ursprünglich die menschlichen Grausamkeiten der 40er-Jahre des 20. Jhdts. verstehen wollte, verwies später auch auf die Verantwortungsreduzierung in der Großstadt. (Ein Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und Aggressionsdelikten, s. o., wurde immer wieder behauptet.) Der Mensch agiere entweder autonom (in wenigen Fällen) oder als Agent für Autoritäten (in den meisten Fällen), deren moralische oder gesetzliche Legitimität erst erwiesen sein müsste.
Siehe Filmausschnitt aus „I wie Ikarus“ (hier wird Milgrams Experiment nach dem Drehbuch von Didier Decoin, *1945 - s. a. o. - wohl am nachvollziehbarsten dargestellt) und u. a. A Virtual Reprise of the Stanley Milgram Obedience Experiments und vgl. das thematisch verwandte Stanford-Prison-Ex. (s. o.), das (auch verfilmte) Ex. The Wave bzw. das Blue-eyed-Ex. (Video) von Jane Elliot (*1933), in dem sie Rassismus als zeit- und ortsübergreifende Phänomene experimentell nachstellte. Ziel war es, anschaulich die Lebenserfahrungen diskriminierter Minderheiten zu vermitteln. (Zu Vorurteil s. o., zu Rassismus vgl. a. u. u. o.)
* Gruppenleistungen: Eine Gruppe ist einerseits mehr
als die Summe ihrer Einzelteile, sie ist andererseits aber oft langsam und trifft
manchmal schlechte Entscheidungen. Die Schwarmintelligenz steht dem
Lemmingverhalten bzw. dem Herdentrieb (beides bezeichnet die
Nachahmung der Verhaltensweisen anderer ohne nachzudenken) gegenüber.
Gruppenleistungsfaktoren
° | Positive Faktoren: Gruppenleistungen sind aufgrund von Arbeitsteilung, Fehlerausgleich, Kumulation der Fähigkeiten, Ideenhäufung und Koordination oft besser als die Leistung eines Einzelnen, was z. B. in Aufgaben, die Physis erfordern (z. B. Hausbau) oder im Ex. NASA-Spiel, in dem zunächst einzeln, dann in der Gruppe aus einer vorgegebenen Liste jene Gegenstände, die auf dem Mond sinnvoll sein könnten, ausgewählt werden müssen, sichtbar wird. |
(Umgekehrt sind die Teilnehmer des Exs. Demokratiespiel mit dem Ergebnis oft unzufrieden: Einzelpersonen müssen zunächst eine Auswahlaufgabe erfüllen, z. B. aus einer langen Liste von Adjektiva jene 5 heraussuchen, die sie für die wichtigsten Lehrertugenden halten. Danach werden die Teilnehmer zu Gruppen zusammengefasst, die sich nun neuerlich auf 5 Eigenschaften einigen müssen. Die Sprecher dieser Gruppen nehmen danach an einer Podiumsdiskussion ohne Möglichkeit, sich nochmals mit denen auszutauschen, die sie delegiert haben, teil und bestimmen endgültig 5 Adjektiva. Ergebnis: wie in der echten Demokratie ist nicht jede Person mit ihrer Vertretung einverstanden, hat aber keine Möglichkeit mehr einzugreifen. Durchsetzungskräftige Delegierte könnten z. B. oft weniger ihre Gruppe als eigene Interessen vertreten, sodass sich das „Wahlvolk“ in den Ergebnissen nicht mehr wiederfindet. Die Frage, ob es derartige Phänomene rechtfertigen würden, Prinzipien einer repräsentativen Demokratie außer Kraft zu setzen, wird dennoch mangels einer vernünftigen Alternative meist verneint.) | |
Für positive Auswirkungen von Gruppen vgl. auch das 1971 durchgeführte Ex. des Sozialpsychologen Jay Hall (1932?-2008?), der den Film „12 Angry Men“ = „Die zwölf Geschworenen“ von 1957 nach 38 min unterbrechen ließ, um die Vpn. die Reihenfolge erraten zu lassen, in der sich die einzelnen Geschworenen umstimmen lassen werden. Dabei schnitten Gruppen - und hier wieder etablierte, eingespielte oder gar trainierte Gruppen, bei denen sich anfängliche Meinungsdifferenzen sogar leistungsfördernd auswirkten, gegenüber Ad hoc-Gruppen, bei denen „einzigartige“ Ergebnisse, also solche, die vorher kein Gruppenmitglied geäußert hatte, eher unrealistische Kompromisse darstellten, - im Vergleich zu Einzelpersonen signifikant besser ab. Hall nannte dies Synergie-Effekt. | |
Zur Theorie der Social Facilitation s. u. | |
° | Negative Faktoren: Diese können allgemein im sozialen Einfluss oder speziell in der Dominanz eines vielleicht bestimmenden, aber nicht kompetenten Mitglieds oder im Gruppendenken liegen, das oft übertriebenen Optimismus, die Illusion von Eintracht und den Hang zu den o. erw. Stereotypen etc. fördert. Der Journalist William H. Whyte, 1917-1999, prägte 1952 den Begriff des sich negativ auswirkenden „groupthink“, das Irving Janis, 1918-1990, untersuchte. Letzterer empfahl zur Vermeidung unerwünschter Effekte das Einsetzen eines Advocatus diaboli, um zu verhindern, dass Gegenstimmen unter den Tisch fallen.) Wenn Gruppen über ein (in welchem Zusammenhang immer) zu fällendes Urteil beratschlagen (Beispiele: „Wie lange ist die Grenzlinie Österreichs?“ „Wieviel Jahre Gefängnis soll ein nach § XY Verurteilter von einem Richtersenat erhalten, wenn diese oder jene Milderungsgründe zutreffen?“ „Welches Musikvideo hat die beste Qualität?“ „Welche Maturanote soll ein Lehrerkollegium einem bestimmten Schüler geben?“ etc.), dann ist das Ergebnis dieses Austausches weit weniger belastbar als der statistische Durchschnitt der Ergebnisse, wenn jede/r vorher unabhängig als Einzelperson entschieden hat. |
Gruppen scheinen darüber hinaus risikofreudiger als Einzelpersonen zu sein, da sich ja scheinbar die Verantwortung für eventuelles Fehlverhalten auf mehrere Personen aufteilt und der eigene Anteil gering erscheint (von James A. Stoner, *1935, 1961 „risky shift“ genannt; auf dieses Phänomen werden z. B. Bergführer in ihrer Ausbildung hingewiesen, um später dem Druck ihrer Gruppen - die womöglich viel Geld für einen Gipfel bezahlt haben - im Zweifel Risiko zu nehmen und nicht umzukehren, widerstehen zu können). | |
Außerdem existiert eine Reihe von Taktiken, die in Gruppensitzungen zwar vorgeblich der Entscheidungsherbeiführung dienen sollen, jedoch nicht förderlich, sondern manipulativ eingesetzt werden (z. B. Desinformation, Scheinkampf, Benutzen von Fachjargon). Unbewusst bleiben oft Einflüsse, die auf den ersten Blick irrelevant wirken, aber Noise (s. o.) verursachen und in Ex.en vielfach nachgewiesen wurden: Welche Meinung wird bei einer Entscheidungsfindung als erste formuliert, welches Argument ist das zuletzt gehörte? Wie sind die Sprecher gekleidet und welchen Eindruck vermitteln sie daher unabhängig von den von ihnen vertretenen Inhalten? Ist die Stimme fest (spricht aber womöglich Unsinn) oder vermittelt sie Unsicherheit (obwohl sie gute Argumente vorträgt)? usw. | |
Erwartungswidrig schlechte Gruppenleistungen entstehen oft durch mangelnde Koordination oder Motivation. In Gruppen wirksam wird oft der Ringelmann-Effekt (nach dem französischen Agraringenieur Maximilien Ringelmann, 1861-1931, der in einem der ersten sozialpsychologischen Experimente überhaupt herausfand, dass Menschen, die an Lasten ziehen, weniger Einsatz zeigen, wenn sie nicht allein ziehen; auch „soziales Faulenzen“ genannt). Dem gegenüber steht allerdings die soziale Aktivierung, von Floyd Allport (1890-1978, dem Bruder von Gordon Allport; s. o.) Theory of Social Facilitation genannt, wonach die bloße Anwesenheit Anderer bei einfachen Aufgaben bessere Resultate erzeugt (vgl. o.), solange die Anzahl der schwächeren Gruppenmitglieder nicht einen Kipppunkt überschreitet oder die Gruppe von der gestellten Aufgabe überfordert ist. | |
Da einzelne Gruppenmitglieder über ihre zahlenmäßige Bedeutung hinaus die Leistung einer gesamte Gruppe negativ zu beeinflussen imstande sind, gilt es nach Terence Mitchell (*1942?), Idiots / Jerks (die schikanieren und sabotieren), Slackers (die ihre Leistung verweigern) und Downers (die „herunterziehen“) zurückzudrängen, um soziale Unterminierung zu verhindern (die häufiger vorkommt als das Gegenteil; vgl. a. o. Luzifereffekt). | |
Zur Gruppenpolarisierung s. u. |
Dies alles steht in Zusammenhang mit der
* Gruppendynamik: Innerhalb jeder Gruppe wirken Kräfte, die spontan die Wahrnehmung einer Gruppe vereinheitlichen und die Gruppenstruktur in Verbindung mit der Rollenverteilung entstehen lassen oder verändern können. So entwickelt sich z. B. (möglicherweise aufgrund des Mere exposure-Effekts; s. o.) auch unter vorher einander unbekannten Gruppenmitgliedern, z. B. in neu zusammengestellten Schulklassen, bald so etwas wie ein Korpsgeist, der andere Gruppen als Rivalen ansieht. Dies wurde schon 1954 von dem durch das persönliche Erlebnis des griechisch-türkischen Kriegs 1919-1922 motivierten Muzaffer Şerif Başoğlu, später Muzafer Sherif, 1906-1988, in seinem Ferienlagerex. beobachtet. Erst ein übergeordnetes Ziel - die Wiederherstellung der von Sherif manipulierten Wasserversorgung war nur gemeinsam möglich - konnte die Kluft überwinden.) Derlei Vorgänge werden (seit Kurt Tsadek Lewin) Gruppendynamik genannt; sie können, z. B. in der Therapie, bewusst zur Gruppenveränderung genutzt werden.
Ein zu beachtendes Phänomen ist auch das Confinement (Eingesperrtsein auf kleinem Raum), das „Lagerkoller“ (etymologisch mit „cholerisch“ verwandt) evozieren kann. Beispiele: Polarstationen, Weltraumstationen, Skikurse, Quarantänesituationen wie bei der COVID 19-Pandemie 2020f etc. (Isolation hat natürlich auch bei Einzelpersonen, z. B. bei Einzelhaft, psychologisch nachteilige Folgen.)
In einer Gruppenanalyse werden die Konstellation (Größe der Gruppe, Grad an Ungleichheit, Permeabilität, Territorium), der Verlauf (Dauer des Bestehens, Rhythmik - kontinuierlich bzw. diskontinuierlich - der Veränderungen) und die Motivation (Gründe der Gründung, momentane Motivation, Zielmotivation) erhoben. Die Aktionen der Gruppe werden hinsichtlich der Beteiligung (Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen), der Übereinstimmung (Informationsaustausch, Verarbeitung von Widersprüchen, Kontakte und Sympathien) und der Gruppenkohäsion (des Zusammenhalts, vgl. auch u. Soziogramm; die Schismogenese beschäftigt sich dabei mit dem Handling der jeweiligen Gegenreaktionen bei interner oder externer Konkurrenz) untersucht. Die Kohäsion hängt vom Wohlbefinden der gesamten Gruppe und der Struktur ihrer Führung ab. (Nach dem australischen Soziologen Elton Mayo, 1880-1949, tendieren alle Gruppen früher oder später zur Herausbildung einer Hierarchie. Sozialpsychologische Forschungen in diese Richtung waren in der Folge für das Management von Organisationen fruchtbringend. S. a. u.)
In der Gruppenarbeit, die dazu beitragen kann, die festgefahrenen sozialen Bezüge zu lockern, können mit den Methoden des Diskurses (reversibel miteinander reden), in geplanten Spielen (Rollenspiele, die z. B. Reversibilität der Rollen bewirken können) oder im biotischen Verfahren (in lebensechten Situationen) die gewünschten Modifikationen angestrebt werden. Ein Phänomen, das möglicherweise verhindert werden sollte, ist die Gruppenpolarisierung. Sie besteht darin, dass Gruppenmitglieder, nachdem sie mit anderen Gruppenmitgliedern gesprochen haben, oft eine extremere Position als ihre Ausgangsposition vertreten. (Der Austausch innerhalb von Gruppen führt nicht notwendigerweise zu vernünftigen Ergebnissen.)
Veränderungen in gesellschaftlichen Gruppen erfolgen nach Lewin in drei Phasen: Auflockern (unfreezing) des alten Zustandes - Hinüberleiten (moving) in den neuen Zustand - Verfestigen (freezing) des neuen Zustandes. (Ausgangspunkt war für ihn als 1947 in die USA Emigrierter die Frage, wie man Deutschland zu einer Demokratie verändern könnte.)
* Mobbing: Mobbing, das immer häufiger auch als Cybermobbing auftritt und damit nicht mehr an die körperliche Anwesenheit von Tätern und Opfern gebunden ist (wenn man sein Handy nicht abdreht bzw. aus den a/sozialen Netzwerken nicht austritt, können die Belästigungen 24 h am Tag andauern), ist eine der negativsten Phänomene im Zusammenhang mit Gruppen (im Englischen meist scapegoating - „jemanden zum Sündenbock machen“ - oder - oft im Schulbereich - bullying genannt), wobei das Schikanieren bzw. Terrorisieren anderer auch eine physische Komponente beinhalten kann. Der Begriff „Mobbing“ wurde von Konrad Lorenz (s. o.) im Hinblick auf Gänseküken geprägt und erfordert eine gewisses Maß an Öffentlichkeit.
Mobbing
ist nicht
identisch mit Konflikten - s. u.
- oder herkömmlichen Belästigungen, die von Einzelpersonen ausgehen und
bis zum Stalking, einer länger andauernden beharrlichen
Verfolgung einer Person mit der Folge einer unzumutbaren Einschränkung ihrer
Lebensführung, gehen kann. Es handelt sich um eine schwerwiegende Störung des Gruppen-
bzw. Arbeitsklimas durch Verhaltensweisen, deren Bandbreite innerhalb eines wie immer definierten Kräfteungleichgewichts
zwischen Hänseleien und Nötigungen liegt, die
auf gleicher Ebene, als Bossing (von oben nach unten) oder als
Staffing (von unten nach oben) auftreten kann. Haller
(s. o.) bezeichnet Mobbing
als systematisiertes Kränken, das zu Querulanz führen kann, wenn ein
fanatisch-narzisstisches Opfer um sein Recht kämpft. Laut Heinz
Leymann (1932-1999), der 1993 die
erste grundlegende Studie über systematische Schikanen in der
Arbeitswelt veröffentlichte und so zur Popularisierung des Begriffs beitrug, hat Mobbing folgende
Merkmale:
° | Auftreten negativer, gegen eine oder mehrere Personen gerichtete kommunikative Handlungen | |
° | Häufigkeit und längerer Zeitraum | |
° | Handlungen kennzeichnen die Beziehung zwischen Täter/in und Opfer | |
° | Mobbinghandlungen erscheinen in 5 Bereichen: | |
+ Angriff auf die Möglichkeit, sich mitzuteilen + Angriff auf die sozialen Beziehungen des Opfers + Angriff auf das soziale Ansehen + Angriff auf die Berufs- und Lebenssituation + Angriff auf die psychische und physische Gesundheit oder die sexuelle Integrität, z. B. durch Gaslighting (s. o. und hier; eine gezielte Verunsicherung einer Person mittels Falschinformationen und Infragestellung ihrer Realitätswahrnehmung, die zum völligen Zusammenbruch führen kann. Namensgebend war das Theaterstück Gas Light von Patrick Hamilton, 1904-1962, aus dem Jahr 1938, das unter dem Titel Das Haus der Lady Alquist 1944 von George Dewey Cukor, 1899-1983, mit Ingrid Bergman, 1915-1982, oscarträchtig verfilmt wurde.) |
Mobbing-Prävention muss sowohl bei den Tätern, deren Verhalten auch gerichtliche Konsequenzen haben kann (s. hier und vgl. z. B. das seit 2021 neue Bundesgesetz über Maßnahmen zum Schutz der Nutzer auf Kommunikationsplattformen KoPl-G, vulgo „Hass im Netz-Gesetz“ - s. Link -, aber auch das Beamten- bzw. Vertragsbediensteten-Dienstrecht oder das Strafrecht - s. §§ 107a, 111 und 115 - können wirksam werden), wie auch bei den Opfern, deren Selbstbewusstsein gestärkt werden soll, ohne dass sie sich selbst als schuldig an der Situation ansehen, ansetzen.
Eine bewährte Methode ist der 1991 von Barbara Maines (1945-2011) und George Robinson (1945-2021) in Großbritannien in den Büchern Bullying: A Complete Guide to the Support Group Method und Crying for help: the No Blame approach to bullying entwickelte No Blame Approach, bei dem Unterstützergruppen gebildet und ohne Schuldzuweisungen Gespräche mit allen Beteiligten geführt werden, in denen die Einsicht in die jeweils andere Seite im Mittelpunkt steht (vgl. hier oder Fallgeschichte): „Ein Prozess, der die Mobber nicht mit einbezieht und nicht versucht, Empathie und Verständnis zu fördern, kann keine grundsätzliche Verhaltensänderung bewirken.“
* Konflikte: Konflikte entstehen bei gleichzeitiger Aktivierung einander widersprechender Handlungstendenzen und treten in Gruppen (genauso wie zwischen Einzelpersonen) durch individuelle Wahrnehmungsunterschiede und/oder das Aufeinanderprallen unvereinbar scheinender widerstreitender Auffassungen, Interessen, Zielsetzungen, Territorialansprüche und Wertvorstellungen im Laufe der Zeit fast notwendigerweise auf. Unerwünschte Folgeerscheinungen können durch überlegtes Konfliktmanagement verhindert oder bearbeitet werden. Werden Konflikte nicht gelöst, besteht die Gefahr, dass negative Gefühle wie Wut oder Angst handlungsbestimmend werden. Streiten, um Konflikte zu bereinigen, erfordert allerdings nach Susanne Jalka, *1945, Streitkraft („...wenn man sich gut vorbereitet auf einen Streit einlässt, mutig und cool, und zugleich nicht jedes Wort der Streitpartner persönlich nimmt [...] also quasi eine dicke Haut als persönlichen Schutz aufbaut, sodass Kränkungen daran abprallen. Alle Konzentration soll auf die eigene gute Wortwahl und auf das intensive Wahrnehmen des Partners, der Partnerin gerichtet sein.") Man unterscheidet Verteilungs-, Territorial-, Beziehungs-, Ziel-, Rollen-, Macht-, Werte-, Informations-, Identitätskonflikte u. a. m. Nicht zu verwechseln sind Konflikte mit Meinungsverschiedenheiten oder Missverständnissen, die ganz einfach bereinigt werden könn(t)en. Geschieht dies allerdings nicht, können daraus Konflikte entstehen.
Als Begründer der Konflikt- und Friedensforscher gilt der norwegische Mathematiker und Soziologe Johan Galtung (1930-2024). Er entwickelte die multidimensionale Transcend-Methode der systematischen Dialogführung. Mithilfe bestimmter Analysemethoden der Medizin (Diagnostik, Prognostik, Therapeutik), der Mathematik (diskrete und strukturelle Mathematik, Kombinatorik und Stochastik), der Soziologie, der vergleichenden Kulturwissenschaften und der Anthropologie sollen Konflikte auf allen gesellschaftlichen Ebenen in ihren Ursachen, Triebfedern und Folgen differenziert erfasst werden können. Der persönliche Standpunkt soll zugunsten einer objektive(re)n Sichtweise verlassen werden, um dadurch eine gewaltfreie Transformation des Konflikts in drei Schritten zu ermöglichen: (Auf)lösung des Konfliktgrundes - Schadensausgleich bzw. -behebung - Versöhnung.
Der israelische Philosoph אבישי מרגלית / Avishai Margalit (*1939) befasste sich 2010 in seinem Buch On Compromise and Rotten Compromise (s. hier) mit dem Wesen von Kompromissen, die friedlichen Interessensausgleich gewährleisten sollen, und unterschied den blutleeren, manchmal faulen Kompromiss (anemic compromise), der eher ein Handel sei, vom echten Vollblutkompromiss (sanguine compromise), der Verzicht auf eigene Maximalpositionen und das Anerkennen des vormaligen, nun entdämonisierten Feindes als Verhandlungspartner verlange, um - gemäß der lateinischen Wortwurzel - ein gegenseitiges Versprechen, an das beide gebunden sein werden, zu erzielen. Ein guter Kompromiss teile das Trennende auf.
Das Einsetzen von Strategien der Deeskalation bzw.
solchen der Eskalation (zu den Eskalationsstufen
s. o.) können Konflikte dämpfen bzw. schüren und befeuern.
(Beispiele für Konfliktstrategien: Nachgeben, Zwingen, Vermeiden, Kooperieren etc.) In
neuerer Zeit versuchen zahllose Organisationen durch Teambuilding-Maßnahmen und
Stärkung der Cooperate Identity, oft unterstützt von seriösen oder weniger
seriösen Beratern, Konflikt-Prävention bzw. Konflikt-Bearbeitung zu unterstützen.
Ein diesbezügliches Modell stammt von Bruce
Tuckman (1938-2016) und wurde
bereits 1965 entwickelt. Er empfiehlt, um Konflikte zu vermeiden, die Beachtung
folgender
Phasen der Teambildung bzw. -entwicklung:
° | Forming: Kennenlernen, Findungsphase, Abhängigkeit von der Gruppenleitung |
° | Storming: Finden des Platzes in (der Hierarchie) der Gruppe, ev. Unstimmigkeiten oder sogar Machtkämpfe |
° | Norming: Diskussion von Normen und Regeln, Zuwendung zu den der Gruppe gestellten Aufgaben |
° | Performing: Im Idealfall Erfüllung gestellter Aufgaben unter gegenseitiger Akzeptanz der jeweils eingenommenen Rollen |
° | Adjourning (manchmal Transforming), 1977 hinzugefügt: Phase des Auseinandergehens nach längerer Zusammenarbeit |
Um ein konfliktfreies, von Enthusiasmus, Engagement und Motivation geprägtes Klima in Unternehmen zu erzeugen, riet der frühe amerikanische Managementtheoretiker Douglas Murray McGregor (1906-1964) in seinem 1960 erschienenen Buch The Human Side of Enterprise zu flachen Hierarchien und selbstbestimmtem Arbeiten.
Zu Konflikten s. a. o.; zu Triebkonflikten s. o.; s. a. u. Konflikttypen u. o Konfliktkommunikation)
- Schicht und
andere soziologische Unterteilungen:
Das Konzept von der (gesellschaftlichen) „Schicht“
(Stratifikationstheorie) ist ein traditionell
auf Bildungsgrad, Beruf und Einkommen (bis weit ins 20. Jh. hauptsächlich
bis ausschließlich der/das der Väter) beruhender, immer
wieder problematisierter Einteilungsversuch der Bevölkerung eines Landes. (Alle
drei Parameter in Kombination ergeben bei leichter Übergewichtung des
materiellen Wohlstands die mit Sozialprestige verbundene Schichtzugehörigkeit.) Man
unterscheidet gemeinhin Unterschicht, Mittelschicht (untere /
mittlere / obere Mittelschicht) und Oberschicht. In Industrieländern
ergibt sich meist eine breite Mittelschicht (oft liegen 90% der Einkommen dicht
beieinander), während in Entwicklungsländern die Schere zwischen (kleiner)
Oberschicht und (mehrheitlicher) Unterschicht bei gleichzeitig geringzahliger Mittelschicht viel weiter
auseinanderklafft. In
letzter Zeit werden in der Schichttheorie so genannte Sinusmilieus berücksichtigt. Bei dieser „Typologie Gleichgesinnter“ werden
geteilte Lebensstile, Einstellungen und Wertvorstellungen berücksichtigt (vgl.
unten stehende Graphiken und
Sinusmilieus in
Deutschland).
Abb. 5/8: Sinus-Milieus in Österreich 2013 (Vgl. hier 2018:
https://www.integral.co.at/sinus-milieus/sinus-milieus-oesterreich)
Abb. 5/9: Aus dem Wiener Kurier vom
16.11.2001
Abb. 5/10: Sinus-Milieus in Deutschland 2004 (nach
https://www.sinus-institut.de)
Der Begriff (gesellschaftliche) „Klasse“ wird im Verhältnis zum Begriff „Schicht“ als untergeordnet angesehen. Er bezeichnet seit Karl Marx (1818-1883) eine durch die Produktionsverhältnisse entstandene soziale Schichtung. Manchmal erfolgt die Definition des Begriffes auch subjektiv über ein Gefühl der Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Kreisen (Klasse als psychologisches Phänomen). Max Weber (1864-1920) definiert Klasse als „jede in einer gleichen Klassenlage (= die typische Chance 1. der Güterversorgung, 2. der äußeren Lebensstellung, 3. des inneren Lebensschicksals) befindliche Gruppe von Menschen.“
Andere mögliche soziologische Gliederungen: Unterteilung in Kasten (streng hierarchisches, kaum durchlässiges System religiöser und gesellschaftlicher Ordnung von Menschen gleichen Berufes) oder Stände (nach www.preussen-chronik.de - „Themen“ - „Preußens ständische Gesellschaft“ geschlossene, abgegrenzte Schichten einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft - Ständegesellschaft -, die jeweils durch ihre Abstammung - Geburt -, durch ihre besonderen Rechte, Pflichten, Privilegien und gesellschaftlichen Funktionen - Beruf - gekennzeichnet sind und sich voneinander durch ihre soziale Position - ihren gesellschaftlichen Rang -, auch durch ihre Lebensführung und ihre politischen Anschauungen - Standesethik - unterscheiden).
- Institution:
Unter Institution versteht man eine oft rechtlich geregelte, festgefügte
Einrichtung mit starren Innen- und Außengrenzen, fixer Rollenverteilung und
festgefügter Hierarchie bzw. ein mit Handlungsrechten, Handlungspflichten oder
normativer Geltung ausgestattetes Regelsystem, das erwartbar reagiert.
- Andere Einteilungen:
Es existieren noch zahlreiche andere zusammenfassende Begriffe (wie Volk,
Nation, Rasse, Ethnie, Religion), die politisch verwendet oder verhindert werden
und identitätsbildend sein können, für die Wissenschaft der Psychologie jedoch
nicht von Interesse sind.
SOZIALE RÄNGE UND MECHANISMEN
Durch unterschiedliche Funktionen der Menschen und ihre verschiedenen Voraussetzungen kann man öfter die in der Folge aufgelisteten sozialen Ränge beobachten. Von den Sozialwissenschaften wurden soziale Effekte, die oft manipulatorisch ausgenutzt werden, beobachtet und beschrieben, die tw. mit anderen Problemen und Effekten (s. o.) in Zusammenhang stehen.
- Ränge:
* Anführer/innen: entstehen durch die jeweilige Situation,
auch durch Charisma und „Führungsqualitäten“ der entsprechenden Personen. Sie geben
Aufträge, handeln und sind - latent oder offensichtlich, institutionalisiert
oder freiwillig anerkannt, dauerhaft oder für einen
bestimmten Zeitraum - übergeordnet, ohne dass darüber diskutiert werden müsste (Alpha-Position).
* Stäbe: Personen, denen kurzfristig oder partiell Verantwortung übertragen wird (z. B. beim Militär, in Betrieben, in Krisenfällen etc.), fachkompetente Berater/innen, die die Alphameinung unterstützen (Beta-Position).
* Unterführer/innen: „Handlanger“ der Anführer bzw. der Stäbe; ihre Zahl nimmt (bedingt durch die Gegebenheiten in Politik und Wirtschaft) ständig zu.
* Sympathisanten/innen: Je nach Betrachtungsweise anonyme „Mitläufer/innen“ oder „engagierte Basis“ (Gamma-Position); sie dienen meist uneigennützig, sind aber nach Enttäuschungen oft zu einer Kontrastellung gegenüber der Führung bereit.
* Masse: das in gewisser Weise berechenbare und z. T. aus Minderheiten bestehende „gemeine Volk“, das von den ersten zwei genannten Gruppen regiert / beherrscht / betreut... wird; zusammen mit den Sympathisanten zahlenmäßig die größte „Einheit“.
* Außenseiter/innen, Gegenspieler/innen: stehen in positiver (z. B. Dissident/innen, Kritiker/innen) oder negativer (z. B. Querulant/innen, Prügelknaben/-mädchen) Hinsicht außerhalb des sozialen Kollektives (Omega-Position). Oft über- oder unterfordert sind sie einerseits ein notwendiges Korrektiv, andererseits geht von ihnen die Gefahr der Demotivation und Destabilisierung der Gesamtgruppe aus. Gute Führungskräfte integrieren Omegas in Direktgesprächen, um sie nicht distanziert oder sogar anarchisch werden zu lassen.
Diese sechs Menschengruppen sind charakterisiert durch
4 Hauptmerkmale:
° | Komplexität: Sie unterliegen einem vielschichtigen Wechselspiel an Kooperationen und Konflikten. |
° | Eigendynamik: Diese erhält sich von selbst und ist nur z. T. von außen steuerbar. |
° | Intransparenz: Das System ist schwer durchschaubar. |
° | Inhabilität: Es ist schwer zu etwas zu bewegen bzw. in seiner Bewegung aufzuhalten oder gar umzudrehen. |
- Soziale Effekte:
* Halo-Effekt: Zu diesem und anderen
Tests beeinflussenden Effekten
s. o.
* Bandwagon-Effekt: die Tendenz, sich Erfolgreichen anzuschließen (Friedrich Nietzsche, 1844-1900: „Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg“). Popularität wirkt, genauso wie ihr Gegenteil, selbstverstärkend. Dazu gegenläufig:
* Underdog-Effekt: die Tendenz, Außenseiter zu unterstützen (z. B. im Sport)
* Ignorierungseffekt: die Tendenz, Unangenehmes zu verdrängen, zu bagatellisieren (z. B. Klimaprobleme)
* Torschlusseffekt: die Tendenz, vor einem (vermeintlichen) Ende rasch tätig zu werden (wird oft in der Werbung ausgenützt; zu Werbepsychologie s. o.)
* Bumerangeffekt (auch Backfireeffekt; vgl. Video): ein starkes, bereits vorhandenes Motiv wird ausgenützt, „zurückgereicht“. Die Kommunikation erreicht das Gegenteil des Beabsichtigten (z. B. wenn ein wissenschaftlicher Artikel über die Fragwürdigkeit homöopathischer Verfahrensweisen die Anhänger dieser Methoden noch bestärkt, wie dies z. B. bei der 2015 vom australischen National Health and Medical Research Council veröffentlichten, 1800 Untersuchungen berücksichtigenden Metastudie, die keine über einen Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung nachweisen konnte und derlei Verfahren als nicht evidenzbasiert entlarvte, tw. der Fall war; vgl. a. o. Affektheuristik).
* Hawthorne-Effekt: Ein in den Hawthorne-Werken durchgeführtes Ex. hat gezeigt, dass die Arbeitsleistung der Angestellten durch kontraintuitive Maßnahmen erhöht werden kann: Veränderungen oder scheinbare Veränderungen der Arbeitsbedingungen (z. B. Einsetzen hellerer Glühbirnen oder auch nur Ersetzen alter Glühbirnen durch völlig identische neue), aber auch die Berücksichtigung sozialer Faktoren hat eine Steigerung der Arbeitsproduktivität zur Folge. (Aus diesen Erkenntnissen entwickelte sich der Beruf des Personalberaters und in weiterer Folge Techniken zur Mitarbeitermotivation.)
METHODEN DER SOZIALPSYCHOLOGIE
Wie bei den meisten anderen Zweigen der Psychologie steht die Datenerhebung, die im Feld oder im Labor vorgenommen werden kann, im Mittelpunkt. In der Folge werden einige Spezifika beschrieben.
- Soziogramm:
Ein wichtiges Instrument der Sozialpsychologie ist das von J. Moreno (s. o.) entwickelte
Soziogramm. Dabei
werden die Beziehungen der Gruppenmitglieder in einer Graphik sichtbar gemacht. Sie wird
entweder von einem Psychologen nach Beobachtung der Gruppe oder in einem
Ex. (nach Einholung des Einverständnisses der
Gruppe) auf folgende Weise
erstellt: Jedes Gruppenmitglied muss eine die Beziehung zu anderen Gruppenmitgliedern
betreffende Frage (z. B. „Mit welchen zwei Gruppenangehörigen würdest du am liebsten / am
wenigsten gern deine persönlichen Probleme besprechen?“) beantworten. In der zu
erstellenden Graphik wird jede Person durch einen Kreis symbolisiert. Die jeweils vier
gewählten Personen werden (vgl. unten stehende Graphik) mit gemäß einer Positiv- bzw.
Negativwahl verschiedenartigen Pfeilen (durchgezogen/strichliert) mit der wählenden
Person verbunden, sodass ein kompliziertes Liniengeflecht und folgende Figuren
entstehen können:
* Doppelwahl: der eine Person Wählende (negativ oder positiv) wird von dieser auch gewählt (im Beispiel 2/3 bzw. 2/4, 9/11 usw.; besonders interessant, wenn dies in der Gegenrichtung mit anderem Vorzeichen geschieht; im Beispiel 6/10). Häufige Doppelwahlen gelten als Zeichen hoher Gruppenkohäsion (vgl. o.) und zeigen (in beide Richtungen) an, dass die Beziehung der betroffenen Wahlpartner geklärt scheint.
* Star: Person mit hohem Wahlstatus (die Zahl der Positivwahlen überwiegt; im Beispiel Nr. 7)
* „Feind/in“: Person mit hohem Ablehnungsstatus (die Zahl der Negativwahlen überwiegt; im Beispiel Nr. 6)
* Außenseiter/in: wird kaum gewählt, bleibt unbeachtet (im Beispiel Nr. 8)
Abb. 5/11: Mögliches Soziogramm nach Moreno (© Thomas Knob)
wählt 1 | wählt 2 | wählt 3 | wählt 4 | wählt 5 | wählt 6 | wählt 7 | wählt 8 | wählt 9 | wählt 10 | wählt 11 | wählt 12 | |
Person 1 | +1 | -1 | -1 | +1 | ||||||||
Person 2 | +1 | -1 | +1 | -1 | ||||||||
Person 3 | -1 | +1 | -1 | +1 | ||||||||
Person 4 | +1 | -1 | -1 | +1 | ||||||||
Person 5 | -1 | -1 | +1 | +1 | ||||||||
Person 6 | -1 | -1 | +1 | +1 | ||||||||
Person 7 | +1 | +1 | -1 | -1 | ||||||||
Person 8 | -1 | -1 | +1 | +1 | ||||||||
Person 9 | -1 | +1 | +1 | -1 | ||||||||
Person 10 | +1 | -1 | +1, -1 | |||||||||
Person 11 | -1 | +1 | +1 | -1 | ||||||||
Person 12 | +1 | +1, -1 | -1 | |||||||||
Summe |
+1 (von 3) |
0 (von 4) |
-1 (von 3) |
0 (von 4) |
-1 (von 3) |
-5 (von 5) |
+5 (von 7) |
o. B. (0) |
0 (von 6) |
-1 (von 3) |
+1 (von 5) |
+1 (von 5) |
Abb. 5/12: Matrixdarstellung der 48 Wahlen
* Berechnungs- und Interpretationsmöglichkeiten: Aus dem Vergleich der Anzahl der möglichen Wahlen mit den tatsächlich erfolgten lassen sich folgende Werte errechnen (Zahlen beziehen sich auf die obige Graphik):
° | Wahlstatus einer Person: Anzahl der Positiv-Wahlen dividiert durch 11 (da man theoretisch höchstens von 11 anderen positiv gewählt werden kann). Auffällig ist hier Person 7. |
° | Ablehnungsstatus einer Person: Anzahl der Negativ-Wahlen dividiert durch 11 (da man theoretisch höchstens von 11 anderen negativ gewählt werden kann). Auffällig ist hier Person 6. |
° | Gruppenkohäsion: Anzahl der wechselseitigen Wahlen dividiert durch 66 (n mal n minus 1 halbe = höchstmögliche Doppelwahlrate) |
° | Zentralisierungsgrad: Je gleichmäßiger sich die Stimmen verteilen, desto „föderaler“ ist die Gruppe. Im Beispiel schwanken die Zahlen zwischen 0 (Person 8) und 7 (Person 7). |
° | Eventuelle Anomalitäten: Eine ungeklärte Beziehung bzw. deren inadäquate Einschätzung zumindest eines/r der Beteiligten drückt sich in verkehrten Doppelwahlen aus (Personen 6 und 10). Verwirrt scheinen auch jene Personen, die ein- und dieselbe Person sowohl positiv wie auch negativ wählen (10 und 12). |
- Feedback:
Als prophylaktische Maßnahme gegen Fehlbeurteilungen und Vorurteile (s. o.) empfiehlt sich das Einholen bzw.
Geben von Feedback (= Rückmeldung).
Feedbackregeln: |
Feedback geben: Feedback soll möglichst
unmittelbar, angemessen, brauchbar (auf Verhaltensweisen bezogen, die auch
änderbar sind), beschreibend statt interpretierend, konkret (auf ein
begrenztes Verhalten bezogen), nicht generalisierend, vor allem
positiv oder zumindest nicht ausschließlich
negativ (z. B. Sandwichtechnik: positive - negative - positive Rückmeldung), in
reversibler, sachlicher, präziser Sprache und tendenziell eher in Ich-Botschaften
(Mitteilung der eigenen Reaktionen) und
Vermutungen als in Vorwürfen und Behauptungen sowie zur rechten Zeit (nicht zu
spät) erfolgen und immer erbeten oder erwünscht
sein. Feedback nehmen: Wer Feedback annehmen will, sollte möglichst genau sagen, worüber (über welche Einzelheiten des Verhaltens) er/sie Rückmeldungen wünscht, das Gehörte durch Wiederholung in eigenen Worten (durch Verwendung der Gesprächstechnik des „Spiegelns“) sicherstellen, Reaktionen auf das Feedback mitteilen und nicht sofort in eine Verteidigungsposition gehen. Bei starker gefühlsmäßiger Betroffenheit kann eine Nachdenkpause zur „Verdauung“ vor einer Reaktion sinnvoll sein. |
Der Grund für die Notwendigkeit von Feedback besteht darin, dass Selbstbild und Fremdbild eines Menschen nicht immer übereinstimmen, da man manchmal einen Teil seiner Persönlichkeit verbergen möchte und umgekehrt oft nicht weiß, wie man auf andere wirkt. Um sich selbst besser kennenzulernen, empfiehlt sich daher die Nutzung einer Außenansicht. Eine Möglichkeit der graphischen Darstellung der vier möglichen Sichtweisen auf die eigenen Persönlichkeitsanteile bietet das 1955 entwickelte sogenannte Johari-Fenster (benannt nach Joseph Luft, 1916-2014, und Harry, eig. Harrington, Ingham, 1916-1995), das diese in vier Fenstern darstellt. Die relative Größe der Fenster I, II, III und IV (ihr Verhältnis zueinander bei gleichbleibender Gesamtfläche; hier gleichmäßig dargestellt) differiert von Person zu Person (und auch innerhalb einer Person im Laufe der Zeit). Das sich durch die Verschiebungen ergebende Bild lässt Rückschlüsse auf die jeweilige Persönlichkeitsstruktur zu.
Das Jo-Har-I- |
mir bekannt |
mir nicht bekannt |
anderen bekannt | I. BEREICH DER FREIEN AKTIVITÄT (OPEN) |
II. BLINDER FLECK (BLIND) |
anderen nicht bekannt | III. BEREICH DES VERMEIDENS, VERBERGENS (HIDDEN) |
IV. BEREICH DES UNBEWUSSTEN (UNKNOWN) |
- Impliziter Assoziationstest:
Beim IAT-Test (s. z. B. o.) wird die Stärke
der Assoziationen zwischen einzelnen Elementen des Gedächtnisses gemessen. Dabei
können z. B. automatische Stereotypen (s. o.)
und verborgene Vorurteile,
die den Personen sonst unbewusst bleiben, entlarvt werden. So benötigen in
Ex.en Vpn., die sich selbst niemals in der
Nähe des Rassismus sehen würden, mehr Zeit und arbeiten fehlerhafter, wenn sie
positive Eigenschaften mit dunkelhäutigen Gesichtern und negative Eigenschaften
mit weißen Gesichtern, als wenn sie negative Eigenschaften mit dunkelhäutigen
Gesichtern und positive Eigenschaften mit weißen Gesichtern assoziieren sollen.
Es existieren also unausgesprochene und nicht bewusste Gedankenverbindungen
(implizite Assoziationen), die durch diesen Test entlarvt werden.
(Onlinetestmöglichkeit hier)
- Cover Story:
In vielen Zusammenhängen ist es sinnvoll, dass Vpn. vom Vl. über einige Aspekte
der Untersuchung getäuscht werden. Dies geschieht durch Tarngeschichten
(plausiblen, aber vorgeblichen, den eigentlichen Zweck der Untersuchung
verschleiernden Erklärungen), die von
den Vpn. nicht als solche erkannt werden können. (Beispiele
s. o. 1,
s. o. 2,
s. o. 3 und
s. o. 4)
- Andere Methoden:
Daneben werden Beobachtung, Befragung, diverse Tests, Labor- und Feldexperimente
etc. verwendet. Für allgemeine Informationen über Methoden der Psychologie
s. o.
* Persönlichkeitspsychologie (auch Differentielle Psychologie; Ausdruck vermutlich von Galton - s. o. -; William Stern - s. o. -, der mit seinem 1900 erschienenen Buch Zur Psychologie der individuellen Unterschiede als ihr Begründer gilt, entwickelte die Systematik) beschäftigt sich ideographisch (als Einzelfallstudie) oder nomothetisch (unter der Annahme universeller Schemata und Profile) mit der Erfassung und Einordnung der Persönlichkeitsstruktur des Menschen. Diese bleibt im Erwachsenenalter relativ konstant: z. B. verändert sich der Grad an Lebenszufriedenheit zwischen dem 20. und dem 60. Lebensjahr auch bei veränderten äußeren Umständen bei den meisten gesunden Menschen kaum. (Alles, was im limbischen System - s. o. - verankert ist, lässt sich nicht oder schwer beeinflussen, die kognitiv-sprachlichen Aspekte der Persönlichkeit, also bewusstes Wahrnehmen und Denken, sind hier ohne Verbindung zu den tieferen Hirnschichten machtlos.)
* Temperament lässt sich definieren als „Kernpersönlichkeit“, das Ausmaß und die Intensität der Reizbarkeit und der Impulskontrolle, „ein charakteristisches Muster der Reaktivität und Selbstregulation“ (Gerhard Roth, s. o.). Es gibt laut dem Psychoanalytiker Otto F. Kernberg (*1928) die emotionale Intensität vor, entsteht durch Vererbung, Reifung und frühkindliche Erfahrungen und enthält nach Avshalom Caspi (*1960) und Phil Silva (*1941, dem Begründer der bahnbrechenden Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study, einer Kohortenstudie, die seit 1972/73 in einem Langzeitex. den Lebenslauf von 1037 in Dunedin/Neuseeland geborenen Babys verfolgt) Eigenschaften wie „unbeherrscht“, „gehemmt“, „selbstsicher“, „distanziert“ und „ausgeglichen“ bzw. deren Gegenteile. Im Unterschied zu den abilities (Fähigkeiten) und der motivation (den Gründen), die einer Handlung zugrunde liegen, bezeichnet temperament den Stil der Ausführung. Das Temperament beeinflusst die subjektive Lebenszufriedenheit mehr als manche äußeren Umstände und wird vor allem durch die Neuromodulatoren (s. o.; z. B. Serotonin, Noradrenalin und Dopamin) bestimmt.
* Persönlichkeit (lat. persona = Maske) bezeichnet die Summe dessen, womit und wie ein Mensch charakteristischerweise auf seine Umwelt reagiert; Temperament, Gefühle, Intellekt, die Art zu handeln und zu kommunizieren gehen in die Persönlichkeit ein. Nach Gordon Allport (1897-1967) ist Persönlichkeit „die dynamische Ordnung derjenigen psychologischen Systeme im Individuum, die seine einzigartige Anpassung an die Umwelt bestimmen“. Der Trait-Ansatz (die Vorstellung, dass Persönlichkeitsmerkmale oder -eigenschaften verlässliche Voraussagen über das Verhalten lieferten) geht auf Guilford (s. o.), Cattell (s. o.) und Eysenck (s. u.), der ihn kritisch diskutierte, zurück: Persönlichkeit sei eine „einzigartige Struktur von Wesenszügen“ (traits; so Guilford 1964). Es wurden cardinal traits, die andere dominieren, von secondary traits, die nur unter gewissen Unständen getriggert werden, unterschieden. (Zum Unterschied zu Person s. o.)
* Charakter (griech. χαρακτήρ = Stempel) bezeichnete früher - im Unterschied zur veränder- und formbaren Persönlichkeit - die feststehenden Verhaltensdispositionen, heute im Widerspruch dazu die im Gegensatz zum Temperament von Umwelteinflüssen bestimmte „erweiterte Persönlichkeit“ und die Dispositionen, die zu den emotionalen Konzepten von sich und anderen („Objektbeziehungen“ - s. o. -, in denen sich das durch Liebe und Aggression bestimmte Triebgeschehen realisiert und strukturiert) führen.
* Typus (griech. τύπος = Schlag) bezeichnet eine durch einen Merkmalskomplex gekennzeichnete Auswahl an Menschen (vgl. a. o. Stereotyp und Vorurteil)
* Attributionstheorien: Sie versuchen die Frage zu klären, auf welche Weise man welche Informationen nützt, um sich ein Bild von anderen Personen zu machen, und dabei insbesondere zu erfassen, wie Individuen kausale Erklärungen für Verhaltensweisen anderer Menschen finden. Laut dem österreichisch-amerikanischen Gestaltpsychologen Fritz Heider (1896-1988), der als Begründer dieser Theorien gilt, erfolgt dies im Wahrnehmungsprozess durch Zuschreibung (Attribuierung) von Eigenschaften. Er unterscheidet zwischen internen Attributionen (die Ursache des Verhaltens wird im Charakter und der Persönlichkeit der Person selbst gesucht) und externen Attributionen (die Ursache des Verhaltens ist in der Situation begründet). - Zu Attributionsfehlern, v. a. dem fundamentalen A., s. a. o.
Zu möglichen Typologisierungen s. a. o. unter „Erziehungsstil-Kategorisierungen“ - Zu den tiefenpsychologischen Persönlichkeitsmodellen vgl. Kap. Tiefenpsychologie und Psychiatrie
- Antike:
Persönlichkeitstypologien wurden bereits in der Antike (vermutlich schon
in Ägypten) formuliert. Man testete
nicht, sondern beobachtete die Ausdrucksmerkmale. Am bekanntesten
wurde die Ausarbeitung der Humoralpathologie
(Körpersäftelehre) des Hippokrates
(Ἱπποκράτης ὁ Κῷος;
ca. 460-370 v. Chr.) durch Galenos
(Γαληνός; ca. 130-210). Sie besagt, dass die Gesundheit von
der Balance der den vier Elementen zuordenbaren Lebenssäfte (humores)
abhänge. (Zenon / Ζήνων
von Elea,
um 490-um 430 v. Chr., hatte Feuer, Erde, Wasser und Luft die Primärqualitäten
trocken, kalt, feucht und warm zugeordnet.) Galenos unterschied die
Vier Temperamente
* Sanguiniker: schwache, schneller wechselnde, gelöste, mehr
nach außen gerichtete Seelenzustände (nach lat. sanguis = Blut) - leichtblütig,
optimistisch, leicht ansprechbar etc. - Luft (warm, feucht)
* Choleriker: starke, schneller wechselnde, gespannte, mehr nach außen
gerichtete Seelenzustände (nach griech. χόλος =
gelbe Galle) - unbefriedigt, jähzornig etc.
- Feuer (trocken, warm)
* Melancholiker: starke, langsamer wechselnde, gespannte, mehr nach innen
gerichtete Seelenzustände (nach griech. μελαγχολία = Schwarzgalligkeit) - schwermütig, tiefgründig,
traurig etc. - Erde (kalt, trocken)
* Phlegmatiker: schwache, langsamer wechselnde, gelöste, mehr nach innen
gerichtete Seelenzustände (nach griech. φλέγμα = Schleim) - schwer ansprechbar, behäbig, kaltblütig
etc. - Wasser (feucht, kalt)
- Konstitutionstypologien
(Körperbautypologien):
* Ernst Kretschmer (1888-1964): In seinem 1921
veröffentlichten Buch Körperbau und Charakter untersucht er als
Psychiater in Tübingen den Zusammenhang gewisser
Körperbautypen mit Psychosegruppen, da ihm in seinem Krankenhaus eine gewisse
diesbezügliche Koinzidenz aufgefallen war (was ihm 1929 eine
Nobelpreisnominierung einbrachte; schon im 19. Jh. hat Lombroso, ein Begründer der
Kriminalstatistik, einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und angeborenen
Körperbauanomalien nachweisen wollen. Beide Theorien sind heute vorwiegend von
historischem Interesse.) Kretschmer,
dessen Nähe zum Nationalsozialismus nach dem Krieg folgenlos blieb (obwohl sie
auch in seiner Ausdrucksweise im unten verlinkten Video noch anklingt), unterschied
3 (+1) Konstitutionen (vgl. Video mit dem Autor)
° | Pyknischer Typ: klein, gedrungen; dominiert in der Gruppe der Zyklothymen (im Extrem zykloid = manisch-depressiv, s. o., als Gesunde zyklothym = gesellig, stimmungsschwankend) |
° | Leptosomer Typ: lang, dürr; dominiert in der Gruppe der Schizothymen (im Extrem schizoid = schizophren, s. o. als Gesunde schizothym = sich abgrenzend, Drang zu eigenen Ideen) |
° | Athletischer Typ: breite Schultern, schmales Becken; dominiert (mit geringerer Korrelation) in der Gruppe der Barykinetischen (Viskösen = zähflüssiges, schwer umstellbares Temperament, im Extrem epileptoid, als Gesunde ixothym = schwerfällig, beharrlich) |
° | Dysplastischer Typ: hat keines der drei Merkmale eindeutig ausgeprägt; statistisch die größte Gruppe, daher wird Kretschmers Typologie heute nur noch eine geringe Aussagekraft zugeschrieben. |
* William H. Sheldon (1898-1977): wollte Kretschmer widerlegen und untersuchte 4000 amerikanische Studenten. Die in objektiven Messungen gefundenen und mit dubiosen, von den Keimblättern abgeleiteten Begriffen bezeichneten Körperbauhauptgruppen entsprachen dabei jedoch etwa jenen von Kretschmer:
° | Endomorpher Typ: entspricht dem Pykniker; er ist überwiegend viszeroton (bequem, gemütlich, sozial, realistisch, genusszugewandt) |
° | Ektomorpher Typ: entspricht dem Leptosom; er ist überwiegend zerebroton (empfindlich, zurückhaltend, gehemmt, künstlerisch, intellektuell) |
° | Mesomorpher Typ: entspricht dem Athletiker; er ist überwiegend somatoton (aktiv, energisch, draufgängerisch) |
Heute werden Körperbautypen allenfalls in der Sportpsychologie verwendet. Zum Zusammenhang von äußerem Erscheinungsbild und Persönlichkeit eines Menschen bzw. der damit zusammenhängenden Anthropometrie vgl. Modern Phrenology und - als historische Reminiszenz - die Physiognomik (1772) von Johann Caspar Lavater (1741-1801).
-
Weltanschauungstypologie:
In seinem 1914 erschienenen Buch Lebensformen entwickelte
Eduard Spranger
(1882-1963), ein in der geisteswissenschaftlichen Tradition von Wilhelm
Dilthey (1833-1911) stehender
deutscher Pädagoge, Psychologe und Philosoph, - je nach Wert- und Sinngehalt - an inhaltlichen
Gesichtspunkten orientierte
6 Weltanschauungstypen
* Religiöser Mensch: Sinnerfüllung des Daseins durch Ausrichtung auf das Überirdische
* Theoretischer Mensch: Sinnerfüllung des Daseins durch Einsetzen des Verstandes, Forschen, Erkennen, Denken
* Politischer Mensch: Sinnerfüllung des Daseins durch Machtausübung und Beeinflussung anderer
* Ästhetischer Mensch: Sinnerfüllung des Daseins durch einfühlende Betrachtung von Schönheit, Form, Harmonie
* Sozialer Mensch: Sinnerfüllung des Daseins durch selbstlose Hingabe, Liebe und Sorge um andere
* Ökonomischer Mensch: Sinnerfüllung des Daseins durch Streben nach Nutzbringendem, Praktischem, Gewinn
- Faktorenanalytische
Modelle:
Das statistische Verfahren der Faktorenanalyse wurde von Spearman
(s. o.) entwickelt. Seit der 2. Hälfte des 20. Jhdts. versucht man einzelne Faktoren statistisch gestützt (taxonomische
Klassifikation aufgrund von Korrelationen) zu isolieren und Merkmalsbeziehungen
(Merkmalsbündel = Cluster) herauszufiltern (z. B. die Intelligenzfaktoren
oder die Unterscheidung von Menschen mit transformierender Haltung von solchen
mit konservierender Haltung). Man
(z. B. Allport) verwendete tw. Wörterbücher, schrieb die Adjektiva, die Persönlichkeitsmerkmale
bezeichnen, heraus, fasste diese zusammen und reduzierte ihre Anzahl. Dieser lexikalische Ansatz
kommt auf bis zu 18 000 Möglichkeiten, die faktorenanalytisch zusammengefasst
und differenziert werden mussten, um Vollständigkeit anstreben zu können und
Überschneidungen zu vermeiden. Die Faktoren-Theorie (Begründer: Spearman,
s. a. o.; neurobiologisch bis heute nicht validiert; das
dortige Modell s. o.)
glaubt, Kriterien ausarbeiten zu können, die möglichst einfach, aber eindeutig
eine Persönlichkeitszuordnung ermöglichen. Es
ergeben sich dieselben statistischen und definitorischen Probleme wie bei den Intelligenzfaktoren
(s. o.). Manche Forscher
reduzieren auf zwei Faktoren:
* Carl Gustav Jung (s. a. o.) Neben den vier Funktionstypen (s. o.), die jeweils mit den Einstellungstypen kombiniert werden können (= 8 Möglichkeiten), unterscheidet Jung
2 Pole sozialer Interaktion (Einstellungstypen):
° | Introvertierte (in sich gekehrte) Menschen |
° | Extravertierte (nach außen orientierte) Menschen. |
Ausgangspunkt war für Jung die Frage, wieso Neurosen unterschiedlich interpretiert werden. Seine Antwort: Jeder Forscher sehe sie seinen Eigenheiten entsprechend. Jung sah Freud als introvertiert, Adler als extravertiert an. - Die Jung'sche Dichotomie erfuhr durch andere Forscher
Erweiterungen:
° | Fünf Erlebnistypen von Hermann Rorschach, 1884-1922, dem Erfinder des Rorschach-Tintenklecks-Tests, der in der Klinischen Psychologie verwendet wird: introvertiert, extravertiert, koartiert, ambiäqual, dilatiert |
° | Myers-Briggs Type Indicator MBTI: wurde 1942 von Mutter und Tochter Katherine Briggs, 1875-1968, und Isabel Myers, 1897-1980, erstellt und 1962 zu einem Persönlichkeitsinventar ausgebaut |
° | The Keirsey Temperament Sorter: ein auf Grundlage des MBTI von David West Keirsey, 1921-2013, entwickelter Temperamentstest, der nach den vier Dimensionen Intro-/ Extraversion, Intuition / Sensorik, Fühlen / Denken und Urteilen / Gewahrwerden sucht. Für Keirsey gilt: „Temperament is a configuration of inclinations, while character is a configuration of habits. Character is disposition, temperament is pre-disposition.“ |
* Hans Jürgen Eysenck (1916-1997; in Berlin geboren, nach England emigriert, ab 1955 Professor für Psychologie in London): Auch seine Theorien haben den Jung'schen Ansatz als Ausgangspunkt. Mit Hilfe eines eigens entworfenen Tests (Eysenck Personality Inventory) entwickelte Eysenck eine Aktivierungstheorie der Persönlichkeit (da er die Erregbarkeit gewisser physischer Systeme, die darüber entscheidet, wie viele Reize man „verträgt“, als grundlegend ansah) und gewann, streng quantitativ-statistisch arbeitend, folgende (in ihrer Ausprägung für ihn weitgehend genetisch determinierte)
3 Faktoren:
° | Dimension Introversion - Extraversion (vgl. Jung; verknüpft mit Geselligkeit, Optimismus, Aktivitäten etc.) |
° | Dimension Stabilität - Instabilität (= Faktor Neurotizismus; verknüpft mit emotionaler Labilität, Ängstlichkeit, Hang zu negativen Gefühlen etc.) |
° | Dimension Impuls - Antriebskontrolle (= Faktor Psychotizismus = pathologische Form, die im Alltag unberücksichtigt bleiben kann; verknüpft z. B. mit Neugier, Aggressivität, Dominanz, Gewissenhaftigkeit, Einzelgängertum. Fähigkeit zu manipulieren etc.; später hinzugefügt) |
Die ersten beiden (für Eysenck angeborenen) Dichotomien lassen sich in einem Koordinatenkreuz, in dessen Quadranten theoretisch jeder Mensch eingetragen werden könnte, darstellen (siehe Graphik). An den jeweiligen Eckpunkten kann man die antiken vier Temperamente erkennen.
Eysenck und die 4 Temperamente (Abb. 5/14) |
||
(Sanguiniker)
Extraversion
(Choleriker) |
Stabilität
Instabilität |
(Phlegmatiker)
Introversion
(Melancholiker) |
In manchen Faktorentheorien gelten die Eysenck'schen Dimensionen
Intro-/Extravertiertheit und Stabilität/Instabilität zusammen mit den drei
Faktoren der Verträglichkeit, der Gewissenhaftigkeit und der Offenheit für
Erfahrung als die „Big Five der Persönlichkeit“ (s. u.).
Eysenck lehnte Psychotherapie ab
(er hielt sie für „nicht wirksamer als gar keine Behandlung“) und war sowohl ein Gegner des Allport'schen
Trait-Ansatzes (s. o.) wie auch der Idee von Persönlichkeitstypen.
Die Persönlichkeit,
deren Merkmale angeboren seien, sei innerhalb eines Spektrums lokalisierbar.
Vgl. Seite über Eysenck
* W. Mischel (1930-2018; in Wien geboren, s. o.) war mit Eysenck in Diskussionen über den Trait-Ansatz (s. o.) verstrickt und forderte stärkere Berücksichtigung der Situationsfaktoren (Interaktionismus). Sein kognitives Persönlichkeitsmodell enthält - abhängig von der Situation (je mehrdeutiger oder zweifelhafter sie sei, desto größere Auswirkungen hätten die Personenvariablen) -
5 Variable:
° | Kompetenz: Wissen und Fähigkeiten, die bestimmte Kognitionen zu Verhaltensweisen ermöglichen |
° | Strategien der Enkodierung: Art des Individuums, Informationen durch Selektion, Kategorisierung und Assoziationen zu verarbeiten |
° | Erwartung: Vorwegnahme wahrscheinlicher Ergebnisse bei bestimmten Handlungen in bestimmten Situationen |
° | Persönliche Werte: Bedeutung, die Reizen, Ergebnissen, Menschen und Aktivitäten zugemessen werden |
° | Selbstregulierende Systeme und Pläne: erlernte Regeln zur Verhaltenssteuerung, Zielbestimmung und Effektivitätsbewertung |
* 2 Dimensionen des Temperaments (nach Jeffrey Gray, 1934-2004, einem Schüler Eysencks)
° | BAS (Behavioral Activation System): Impulsivität, gekoppelt an Belohnungsempfänglichkeit, ersetzt „Extraversion“, neigt bei schlechtem Verlauf zu Aggression, Drogen, Glückspiel) |
° | BIS (Behavioral Inhibition System): Ängstlichkeit, gekoppelt an Bestrafungsempfindlichkeit, ersetzt „Introversion“, neigt bei schlechtem Verlauf zu Ängsten, Phobien, Zwängen) |
* Positive Psychologie: Im Anschluss an den ressourcenorientierten Ansatz von Maslow (s. o.) bzw. in Übereinstimmung mit der Humanistischen Psychologie (s. a. o.) insgesamt entwickelten Martin E. P. Seligman (*1942; s. o.) u. a. eine „Wissenschaft des gelingenden Lebens“, in der versucht wurde, jene Faktoren zu ermitteln, die zu einem gutem Leben beitragen. Kriterien waren unter anderen die Messbarkeit, die kulturübergreifende Dimension und das Ausmaß des Beitrags zur Zufriedenheit. Es ergaben sich
6 Kerneigenschaften (Tugenden):
° | Weisheit / wisdom (kognitive Stärken) |
° | Mut / courage (emotionale Stärken) |
° | Humanität / humanity (interpersonale Stärken) |
° | Gerechtigkeit / justice (zivile Stärken) |
° | Mäßigung / temperance (exzessvermeidende Stärken) |
° | Transzendenz / transcendence (spirituelle Stärken) |
Ihnen zugeordnet sind die 24 Charakterstärken: Bindungsfähigkeit,
Freundlichkeit, soziale Intelligenz, Tapferkeit, Ausdauer, Authentizität,
Enthusiasmus, Kreativität, Neugier und Interesse, Urteilsvermögen, Liebe zum
Lernen, vorausdenkende Weitsicht, Teamwork, Fairness, Führungsvermögen,
Vergebungsbereitschaft, Bescheidenheit, Vorsicht, Selbstregulation, Sinn für das
Schöne, Dankbarkeit, Hoffnung, Humor, Spiritualität. Sie sind in einer gewissen
Bandbreite mehr oder weniger (oder auch nicht) vorhanden und verheißen (an der
Spitze Neugier, Dankbarkeit und Hoffnung) potentiell Lebensglück. Dieses
Charaktermodell der Positiven Psychologie liegt einem Test zugrunde, der
sogenannte Signaturstärken (diejenigen, die am stärksten ausgeprägt sind)
erkennen lässt. Von jemandem, der vier (oder sogar mehr) Signaturstärken in
seinem Beruf einsetzen kann, könne man annahmen, dass er / sie mit seiner
Situation sehr zufrieden sei.
Vgl. DGPPF und
DACHPP
* Big Five der Persönlichkeit: Begriff von Lewis Goldberg (*1932), ausgearbeitet von Paul Costa (*1942) und Robert McGrae (*1949). Angelehnt an die fünf Hauptziele afrikanischer Jagdsafaris (Büffel, Elefant, Leopard, Löwe, Nashorn) postuliert dieses zur Zeit wohl am besten bekannte Modell (vgl. auch folgenden Test)
5 Hauptdimensionen der Persönlichkeit:
° | Neurotizismus (Neigung zu Nervosität, Angespanntheit, emotionaler Labilität, Ängstlichkeit und Traurigkeit; Gegenpol: Gelassenheit, Entspanntheit) |
° | Extraversion (Neigung zur Geselligkeit und zum Optimismus; Gegenpol: Introversion, Neigung zur Zurückhaltung) |
° | Offenheit für Erfahrung (Neigung zur Wissbegierde, Interesse an neuen Erfahrungen; Gegenpol: Festgelegtheit, Konservativismus) |
° | Verträglichkeit (Neigung zum Altruismus, zur Kooperation und Nachgiebigkeit; Gegenpol: Barschheit, Streitlust) |
° | Gewissenhaftigkeit (Neigung zur Disziplin, zu hoher Leistungsbereitschaft, zur Zuverlässigkeit, zu grit, also Beharrlichkeit, Biss; Gegenpol: Unorganisiertheit) |
Dieses Modell, das vom NEO Personality Index Revised NEO-PI-R (dem weltweit am häufigsten eingesetzten psychologischen Fragebogen) erfasst wird, wird auch OCEAN-, manchmal CANOE-Modell genannt (O für openness, C für conscientiousness, E für extraversion, A für agreeableness und N für neurotizism). Kritik: Die erarbeiteten Dimensionen sind nicht ganz überschneidungsfrei.
* 9 Dimensionen des Temperaments (nach der Untersuchung an Kindern Temperament and Development - vgl. Video-Interview - von Alexander Thomas, 1914-2003, und Stella Chess, 1914-2007, aus dem das Passungskonzept - eine normale Entwicklung sei dann zu erwarten, wenn die Umweltbedingungen hinreichend gut zu zu den individuellen kindlichen Persönlichkeitseigenschaften passen - hervorging):
° | Activity level (Aktivitätsniveau) |
° | Regularity / Rhythmicity (Regelmäßigkeit, Tagesrhythmizität) |
° | First response to a new stimulus: Approach - Withdrawal (erste Reaktion auf einen neuen Reiz: Annäherung - Rückzug) |
° | Adaptability (Anpassungsfähigkeit) |
° | Intensity of reaction (Reaktionsintensität) |
° | Quality of Mood (Stimmungslage) |
° | Distractibility (Ablenkbarkeit) |
° | Persistence / attention span (Durchhaltevermögen / Aufmerksamkeitsspanne) |
° | Sensitivity (sensorische Reizschwelle) |
* Typologie der Kommunikationsmuster: Die systemische Familientherapeutin und Mitbegründerin der American Association for Humanistic Psychology Virginia Satir (1916-1988; sie entwickelte 1964 die Conjoint-Familientherapie, bei der versucht wird, Zwangsverhalten in offenes Verhalten umzuwandeln; vgl. hier) unterschied fünf für unterschiedliche Persönlichkeiten zutreffende Reaktionsmuster, aus denen verschiedene Konflikttypen abzuleiten sind (zu Konflikten s. a. o.). Die ersten vier davon werden gebraucht, um einer drohenden Ablehnung durch den Kommunikationspartner zu entgehen:
° | Beschwichtigen (= placating): „Was du auch immer sagst und willst, ist richtig. Ich will dich zufrieden stellen und zähle ohne deine Zustimmung wenig.“ Körperhaltung zustimmend, unterwürfig, hilflos. |
° | Anklagen (= blaming): „Alles machst du falsch - du bist schuld!“ Körperhaltung fordernd, angespannt; man glaubt, selbst erfolglos und einsam, dem anderen, bevor er einen fertig macht, zuvorkommen zu müssen. |
° | Rationalisieren (= computing): „Ich stelle nur Tatsachen fest.“ Körperhaltung ruhig, aber gespannt; man will sich nicht ausliefern. |
° | Ablenken (= distracting): Die Sprache ist wirr, unzusammenhängend, belanglos bis sinnlos, oft theatralisch; Körperhaltung unkoordiniert; man fühlt sich heimatlos und von niemandem gebraucht. |
° | Kongruentes oder fließendes Verhalten (= leveling) Übereinstimmung der Person im Innen und Außen) = anstrebenswerte Authentizität: entspannte Kommunikation, bei der man nicht sein Selbstwertgefühl bedroht sieht (fühlt). |
Satir formulierte auch die Fünf Freiheiten:
Satir - Die „5 Freiheiten“ in Kommunikationsprozessen: The freedom... |
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...to see and hear what is here and now instead of what should be, was, or will be. |
...to say what one feels and thinks instead of what one should. |
...to feel what one feels, instead of what one ought. |
...to ask for what one wants, instead of always waiting for permission. |
...to take risks
in one's own behalf, instead of choosing only to be „secure“ and not rocking the boat. |
(= Sehen und hören was wirklich ist, nicht, was sein sollte. / Das sagen, was ich denke, nicht das, was ich denken sollte. / Fühlen, was ich wirklich fühle, nicht, was ich fühlen sollte. / Das fordern, was ich möchte, nicht immer erst auf Erlaubnis warten. / Auf eigene Verantwortung Risiken eingehen, ohne mich immer erst abzusichern.)
(Dieser Abschnitt könnte auch im Psychotherapiekapitel oder im Abschnitt über Motivation stehen.)
* 3x3-Test: Dieses unwissenschaftliche Ex., das dem Bereich der Partyspiele zuzuordnen ist, lässt die Vpn. rasch - langes Nachdenken ist verboten - die ersten drei Tiere, die ihnen ins Gedächtnis kommen, untereinander aufschreiben. Danach sind diesen Tieren die jeweils ersten drei von der Vpn. assoziierten Eigenschaften (in Adjektiva!) zuzuordnen. Danach erfolgt die Auflösung. Tier 1 mit seinen Eigenschaften: So sehe ich mich, Tier 2: So sehen mich die anderen, Tier 3: So bin ich wirklich.
* Neuere Entwicklungen: Einer der am häufigsten verwendeten Tests ist immer noch das bereits Ende der 30er-Jahre in den USA entwickelte und 1940 auf Deutsch publizierte Minnesota Multiphasic Personality Inventory MMPI, das auch psychische Störungen detektieren soll. Es besteht aus 567 Ein-Satz-Items, die von den Probanden als zutreffend oder unzutreffend klassifiziert werden sollen.
Die heutige Persönlichkeitspsychologie geht meist von einem der drei folgenden Ansätze aus: den Eigenschaften, der Art der Informationsverarbeitung und den beobachtbaren Veränderungen einer Person. Persönlichkeitsmerkmale werden immer öfter automatisch von den großen Internetfirmen erfasst, indem diese die (- s. o. - freiwillig erfolgten!) Clicks von Milliarden Menschen auswerten. (Ex.: Mit 9 Likes bei Facebook kann man die Persönlichkeit eines Menschen treffsicherer erfassen als seine Arbeitskolleg(inn)en, mit 225 besser als sein/e Partner/in, mit 500 besser als er selbst.) Der Einsatz von KI eröffnete auch in der Persönlichkeitspsychologie auf fundamentale Weise neue Möglichkeiten - mit allen Chancen und Risken. (Zur automatisierten Erfassung individueller Persönlichkeitsmerkmale bis hin zum treffsicheren Erkennen der sexuellen Orientierung durch Computerkameras siehe den Videovortrag The End of Privacy des polnischstämmigen Stanford-Professors Michal Kosinski (*1981), zur Überwachung folgende ORF-Doku.)
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